Nicht ganz schlechte Menschen
amorpher
wurde, theoretischer. Wie so viele Verliebte bedachte er sehr spät, als sei er
erst durch Zufall darauf gestoßen, die Kernfrage, aufgrund derer diese
romantisch absurde Situation überhaupt hatte entstehen können. Warum weigert
sich Ellie, mir mitzuteilen, wo
sie wohnt? Rigide Brüder, gut. Vielleicht schämt sie sich für diese Adresse?
Soviel zu schämen gab es da nicht. Pierre Geising war kurz davor, jenen
Gedanken zu denken, der unter normalen Begleitumständen jedem leidlich
intelligenten Lebewesen als erstes in den Sinn gekommen wäre, nämlich den, daß
seine Geliebte etwas vor ihm verbergen wollte. Doch dazu kam es nicht mehr. Die
Haustür flog auf, heraus trat Ellie, die dabei war, sich mit den Händen in den
Ärmeln einer Strickjacke zu verheddern. Hinter ihr trat ein junger Mann ins
Freie, der seine Arme um Ellies Schultern legte und sie darum bat, doch bitte
nicht überzureagieren, dem Faschismus sei allenfalls eine Halbwertzeit von
wenigen Jahren gegönnt.
Das ist dann aber nicht dein Verdienst, jetzt laß mich, ich brauch
frische Luft – rief Ellie und riß sich los. Pierre Geising beugte seinen Kopf
ganz tief zu seinen Schuhen hinab, in der Hoffnung, nicht erkannt zu werden,
und Ellie, die immer noch mit der Strickjacke kämpfte, übersah den sich
bückenden Mann, blieb an ihm hängen und stürzte wie in einem Chaplin-Film aufs
Trottoir. Max sprang ihr sofort zur Seite, fragte, ob sie sich was getan habe.
Geising murmelte eine Entschuldigung, es sei ihm äußerst peinlich. In diesem
Moment sah Ellie ihm ins Gesicht und erstarrte. Binnen Zehntelsekunden waren so
viele Entscheidungen zu treffen.
Max registrierte durchaus, daß Ellie den fremden Mann
intensiv und mit einigem Grimm fixierte, aber das schien im Rahmen, angesichts
dessen, daß sie am linken Ellbogen eine Schramme davongetragen hatte.
Der Mann erhob sich und stammelte weitere Entschuldigungen, die
seltsam übertrieben wirkten. Schließlich war es Ellie gewesen, die besser hätte
achtgeben müssen. Mit ein paar Sekunden Verspätung bemerkte Max dann doch, was
an der Situation vor allem merkwürdig und irritierend war. Der fremde Mann
redete Deutsch.
Sind Sie ein Landsmann? Der so angesprochene Pierre Geising bemerkte
seinen Fehler, besaß aber die Geistesgegenwart, ihn auszubügeln.
Früher einmal war ich das, ja. Ich bin im Elsaß geboren. Und muß
Ihnen recht geben. Der Faschismus hat nicht viel Zukunft. Wenn ich mich
vorstellen darf: Pierre Geising. Erlauben Sie mir bitte, Sie beide auf irgend
etwas einzuladen? Das wäre mir ein großes Bedürfnis.
Geising war der Meinung, daß durch Ellies bewundernswerte
Selbstkontrolle die Situation bereits weitgehend entschärft sei. Ein
Trugschluß. Statt sich dankbar vom Acker zu machen, redete etwas in ihm, ein
amoklaufender Schalk oder der pure Übermut, von Wein und einem nahegelegenen
Lokal, in dem man ein wenig plaudern und sich kennenlernen könne. Ellie indes sah
sofort die Konsequenzen voraus, wenn Max sich als Max Loewe, nicht als Max
Jakobowski vorstellen würde. Die Angelegenheit sei der Rede nicht wert, sagte
Ellie, eine Entschuldigung deshalb nicht nötig. Sie werde ein Pflaster auf den
Ellbogen kleben und gute Nacht.
Mit dem letzten Satz kehrte sie um, tat ein paar Schritte in
Richtung ihrer Wohnung, schob den Schlüssel in die Haustür und hoffte, daß Max
dem Trottel einfach nur Adieu sagen und ihr folgen würde. Der aber, warum auch
nicht, reichte Geising die Hand. Ich bin Max.
Ellie rief laut, er solle ihr schnellstens helfen, die Wunde
abzuwaschen und ein Pflaster draufzukleben. Dabei blutete sie nicht einmal.
Max, der mit dem sympathisch wirkenden Elsässer sehr gerne ein kostenloses Glas
Wein getrunken hätte, konnte daraufhin
nicht anders, als seiner Lebensgefährtin beizustehen, und verabschiedete sich.
Pierre Geising erinnerte sich der Bonbonniere, die er die ganze Zeit unter die
linke Achsel geklemmt hatte, und drückte sie Max in die Hand, als kleine Wiedergutmachung.
Kommst du jetzt? Ich könnte eine Blutvergiftung kriegen! Ellies Tonfall klang
sonderbar schrill, Max war nahe daran, sich bei dem Fremden zu entschuldigen.
Statt dessen reichte er ihm noch einmal die Hand zum Abschied, stumm, mit einem
Kopfnicken, und folgte Ellie ins Badezimmer.
Warum führst du dich denn so auf? Die kleine Schramme da, die sieht
man ja kaum. Der Mann war nett, schau, er hat uns Pralinen geschenkt. Dabei war
es nun wirklich nicht seine Schuld.
Ellie sah in den Spiegel
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