Nicht ganz schlechte Menschen
genau hier, wenn auch stillschweigend, eine Ausnahme geduldet.
Der einfache Soldat, der niedere Offizier, schuldet seinem Feldwebel bzw. dem
ranghöheren Offizier zwar keinen unbedingten, mit dem Wesen des Anarchismus
unvereinbaren Gehorsam, aber einen gewissen, sagen wir: pragmatischen Respekt,
im Sinne der höheren Sache. Ich verwende Begriffe, die eigentlich unsinnig
sind, denn die Anarchisten kennen keine exakte militärische Rangordnung. Es
gibt aber sehr wohl ordentliche ›echte‹ Generäle, die von nun an von jedermann
(und jederfrau) mit Vornamen angesprochen werden, die ihre Mitstreiter
umgekehrt nicht wie Untergebene, sondern wie Auszubildende oder Schutzbefohlene
behandeln (sollen). Die Vertreter der Ausbeuterkaste, die großbürgerlichen
Bewohner Barcelonas, scheinen von einem Tag auf den anderen aus dem Stadtbild
verschwunden zu sein. Einige sind wohl geflohen, viele andere tarnen sich,
glaube ich, mit der Kluft einfacher Arbeiter, heulen mit den Wölfen. Einige
Übergriffe hat es verständlicherweise gegeben, die spontane Wut der Menschen
hat sich entladen, in vereinzelter Lynchjustiz. Aber viele sogenannte Greuel
entstammen, wenn nicht direkt der Phantasie der bürgerlichen Auslandspresse,
dem Umstand, daß man alle Gefängnisse geöffnet hat und die Kriminellen nicht
sofort zu besseren Menschen geworden sind. Inzwischen hat sich das beruhigt.
Ein gewisser Blutzoll mußte bezahlt werden. Das war so, ist – und wird immer so
sein. Auf den Straßen dominiert nicht etwa der Ruf nach Revanche oder Rache.
Die allgemeine Fröhlichkeit hat sogar etwas Surreales an sich; einer frischen
Liebe vergleichbar, wenn alles von Neubeginn, Amnestie und Verzeihung geprägt
ist. Natürlich werden die Kommunisten hier bald das Ruder übernehmen müssen,
aus ganz selbstverständlichen Gründen, aber ich gebe zu, daß der momentane
Zustand doch etwas Berükkendes an sich hat. Selbst du, was immer du politisch
darstellen magst, könntest dich dieser Welle kaum entziehen, hier vor Ort wird
nicht einfach nur Geschichte geschrieben, es findet etwas statt, etwas Großes,
Unbeschreibliches, das mich jubilieren läßt. Etwas, um das ich die Braunhemden
bei ihrem Fackelzug im Januar ’33 stets beneidet habe. Hier findet das Licht
der neuen Zeit den direkten Weg ins Herz der Menschheit. Viele Sportler der Olimpiada Popular, die wie ich in Barcelona gestrandet sind, haben sich spontan einer
Internationalen Brigade angeschlossen. Werden, während ich dir diese Zeilen
schreibe, an der Waffe ausgebildet. Ich ringe noch mit mir, aus zweierlei
Gründen. Ich will, wie du weißt, keine Waffe in die Hand nehmen müssen. Dies
einfach so auszusprechen, das rieten mir vertrauenswürdige Sportskameraden,
würde mir den Vorwurf der Feigheit eintragen und den Verdacht der
Spionagetätigkeit – für pazifistische Sperenzchen habe man in dieser Lage sehr
wenig Verständnis. Der zweite Grund ist meine Zimmerwirtin Ines, die mich
geradezu vergöttert und mich dauernd fragt, was sie mir Gutes tun kann. Sie
verwöhnt mich morgens mit Weißbrot, eingekochten Erdbeeren und echtem Kaffee,
kocht mittags und abends schlichte, aber wohlschmeckende Mahlzeiten, meist
Kartoffeln und Fisch. Ines verlangt dafür nur Pfennigbeträge. Einen Sportler
der Popular zu beherbergen, verschafft ihr anscheinend Vorteile, soweit ich das richtig
beurteile. Fleisch gibt es auf Bezugsschein, auf dem Schwarzmarkt gibt es fast
alles. Zu relativ vernünftigen Preisen. Nicht einmal die notorischen Schieber
und Kreditjuden wollen sich als Feinde der Revolution exponieren.
Es lebt sich in dieser lichterloh entzündeten Stadt so
unbeschwert – als Tourist. Wie du dir sicher denken wirst, will ich mich damit
nicht zufriedengeben. Muß einen Weg finden, wie ich mir selbst treu bleiben und
der gerechten Sache, um die hier gekämpft wird, bestmöglich dienen kann. Weil
ich so gar nicht weiß, wo ich morgen sein werde, ist es relativ sinnlos, daß du
diesen Brief beantwortest. Ich nehme einfach mal an, daß es dir und Ellie
gutgeht, grüße sie bitte recht herzlich von mir, Dein Bruder Karl
PS . Wenn dir oder Ellie etwas
zustößt oder in Paris sonst etwas von Wichtigkeit geschieht, so sende mir
Nachricht davon an KL c/o Ines Rodrigo, Carrer de
Sant Jeroni 2. Eine wahrscheinlich bald schon vage Adresse, doch die einzige,
die ich für den Moment anzubieten habe. Falls mich ein Schicksal ereilt, ich meine
das letztmögliche, verschwende bitte kein Geld an die Überführung
Weitere Kostenlose Bücher