Nicht ganz schlechte Menschen
erschießen
müssen. Frankreich, unter der linksgerichteten Regierung von Léon Blum, nahm
ebenso wie das britische Empire zu den Vorgängen in Spanien eine neutrale
Haltung ein, womit man letztlich den Faschismus unterstützte.
Selten hatte sich Pierre so knisternd-lebendig gefühlt wie
in jenem Moment, als er am Abend um neun Uhr jene Straße betrat, in der seine
Geliebte wohnte, als er die Luft nach Atomen ihres Parfüms abschnüffelte und
den Tropfen Schweiß, der ihm am Hals entlangrann, mit einem Taschentuch
auffing. Die Sonne würde erst in einer halben Stunde untergehen, noch war es
taghell und sehr warm. Den schweren Spazierstock trug er nicht zuerst als
Gehhilfe bei sich, sondern als potentielle Waffe. Die Gegend war übel
beleumundet, zwar noch nicht die Rue Clovis selbst, aber benachbarte Slums im
5. Arrondissement, in denen es Hotels geben sollte, die Zimmer für fünf Francs
die Nacht vermieteten, winzige Zimmer, in denen man nachts aufstehen und
Hunderte über die Tapeten wandernde Wanzen töten mußte, damit man für Stunden
seine Ruhe hatte. Pierre war immens aufgeregt. Ein Hemd mit nurmehr halbsteifem
Kragen, der perlmuttfarbene Leinenanzug, dazu die bordeauxrote Seidenkrawatte –
das waren die für jemanden wie ihn leichtestmöglichen Bekleidungsstücke – trotz
der nun langsam nachlassenden Hitze. Es sei denn, er hätte sich als Prolet oder
Künstler verkleiden wollen, was er tatsächlich kurz erwogen hatte. Dabei gab es
noch gar keinen Plan, was er aus seinem erschlichenen Wissen nun konkret zu
machen gedachte. Es war wie in der glorreichen Zeit, vor fünfzehn Jahren, als
er seine spätere Frau Julie, die stolze und hochgewachsene Tochter des
Weingroßhändlers Bertin, geliebt und erobert hatte, als noch alles, zumindest
sehr vieles, möglich und die Zukunft ein offenes Tor ins Zauberreich gewesen
war.
Am
25. Juli beschloß Hitler, dem Hilfeersuchen von General Franco nachzukommen,
mit einer Finanzspritze von 500 Millionen Reichsmark und Truppen, allen voran
der Legion Condor, die auf diesem Weg in Spanien ihre neuen Flugzeuge testen
sollte.
Pierre Geising wartete, bis die Dunkelheit hereinbrach,
dann ging er schnellen Schrittes an dem dreistöckigen Mietshaus vorüber und
warf einen Blick auf das Klingelschild mit den insgesamt zehn Namensplaketten. Jakobowski stand dort nirgends zu lesen. Er hatte von Luc, seinem gewitzten Küchenjungen,
die Adresse erfahren, aber in welchem Stockwerk Ellie wohnte, wußte er noch
nicht. Unschlüssig ging er weiter, bis ans Ende der Straße, kehrte dort noch
einmal um. Die Vorhänge vor den beiden Souterrainwohnungen waren zugezogen.
Geising lauschte, während er so tat, als würde er sich die Schuhsenkel binden.
Eine Wohnung hier mochte ungefähr 350 Francs Miete kosten. Souterrainwohnungen
waren ihrer Düsternis wegen deutlich billiger, vor allem in dieser Gegend, in
der bei Nacht oft in den Rinnstein gekotzt, gegen die Hauswände gepisst oder
gar eingebrochen wurde. Demnach war es ziemlich wahrscheinlich, daß Ellie und
ihre Brüder, als arme Exilanten, sich dort einquartiert hatten. Er spähte
schräg hinab, auf den winzigen Spalt zwischen den Vorhängen der Wohnung zu
seiner Linken. Im Inneren brannte Licht. Mehr konnte man nicht erkennen. Plötzlich
ertönte ein gedämpfter Schrei. Geising glaubte Ellies Stimme zu erkennen,
obwohl es nur ein kurzer Schrei war, nicht wirklich ein Schrei aus Not oder
Schmerz, mehr eine stark betonte Gefühlsäußerung. Er zögerte. Im Grunde mit dem
heute Erreichten bereits zufrieden, spielte er dennoch mit dem Gedanken, an
Ellies Tür zu klopfen. Ob sie sich über so unvermuteten Besuch freuen würde,
fragte er sich – und zweifelte daran. Keine Frau, ausnahmslos keine, möchte
ausspioniert werden. Er trug für den Fall der Fälle ein Geschenk bei sich, eine
Bonbonniere mit Marzipan- und Nougatpralinés. Während er so hin- und
hergerissen seine Schuhsenkel band und wieder öffnete und wieder band,
betrachtete Geising die Situation aus allen möglichen Perspektiven.
Da, wenige Meter entfernt, schräg unten, lebte Ellie, mit ihren
wertkonservativen Brüdern, die ihr die Liaison mit einem verheirateten Mann
krummnehmen würden. Naja. Seinen Ehering hatte Pierre vorsorglich abgenommen
und in seiner Brusttasche verstaut. Aber kommt man mit Lügen auf Dauer weiter?
Bringt man sich damit letztlich nicht nur in neue, noch verfahrenere
Bredouillen?
Pierre Geising erwog das Für und Wider von Etwas, das immer
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