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Nicht ganz schlechte Menschen

Nicht ganz schlechte Menschen

Titel: Nicht ganz schlechte Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Krausser
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über dem Waschbecken und zog ihren
Lippenstift nach. Bei etwas besserer Beleuchtung hätte Max vielleicht bemerkt,
wie kreidebleich sie war. Langsam beruhigte sie sich, bis ihr einfiel, daß es
einen letzten Stolperstein gab. Diese Bonbonniere war ja sicher als Mitbringsel
für sie gedacht gewesen. Wenn nun ein kleines Kärtchen darinnen lag, mit
verräterischen Zeilen? Zeig mal her. Ellie riß Max den Karton aus der Hand. Ich
muß pinkeln. Mach die Tür von außen zu. Während Max gehorchte und in die Küche
ging, um an einer Tasse kalten Malzkaffees zu nippen, öffnete Ellie die
Pralinenschachtel. In der Tat, da lag ein Kärtchen. Von Pierre für die größte Süßigkeit der
Welt .
    Was ging nur vor im Kopf dieses impertinenten Subjekts? Und warum,
wenn er sie so hatte kompromittieren wollen, hatte er es sich dann anders
überlegt? Egal. Sie würde Schluß machen. So ein Verhalten würde sie sich von
niemandem bieten lassen. Verliebtheit entschuldigt längst nicht alles.
    Max trank den Kaffee und begutachtete die Visitenkarte, die Geising
ihm mitsamt den Pralinen in die Hand gedrückt hatte. Hotel Monbijou, 2, Rue Dunkerque
(presque Gare du Nord) . Interessant. Er wunderte sich nun doch
etwas darüber, warum Ellie, statt sofort die Schramme auszuwaschen, erst einmal
ihren Lippenstift nachgezogen hatte. Und warum sie kein Pflaster verlangte. Die
Pflaster lagen nämlich nicht im Bad, sondern hier in der Küche, in der
Besteckschublade. Und überhaupt war es, zumal für eine Dame, nicht die feine
Art, im Bad zu pinkeln, dafür gab
es den Abort auf halber Treppe. Dieses Vorhaben gar noch offen, mit deutlichen
Worten anzukündigen, nein, so kannte er seine Geliebte nicht.
    Er entnahm der Schublade die Packung mit den Pflastern und
stellte sich vor die Badezimmertür.
    Kommst du zurecht?
    Ellie war damit beschäftigt gewesen, Pierres Kompliment-Kärtchen in
kleine Schnipsel zu zerreißen und im Abfluß des Waschbeckens zu entsorgen. Max’
Stimme klang durch die Tür leicht sarkastisch, aber das konnte ihrer Angst und
Einbildung entspringen.
    Ich hab hier die Pflaster! Du wolltest doch eines. Jod haben wir
nicht. Soll ich in der Nacht-Apotheke ein Fläschchen besorgen?
    Ellie tupfte sich den Schweiß von der Stirn. Dann öffnete sie die
Tür und umarmte Max. Es war der sicherste Weg, ihm nicht ins Gesicht sehen zu
müssen.
    Tut mir leid, ich war wohl ein wenig hysterisch. Es muß aber auch so
gräßlich blöd ausgesehen haben, wie ich lang hingeklatscht bin. Sie flüsterte
und legte ein leichtes Tremolo in ihre Stimme.
    Ach so, dachte Max. Das war es also. Die Eitelkeit einer gestolperten
Frau. Er kam um ein Lächeln nicht umhin.
    Karl hätte nicht etwa in Barcelona festgesessen. Die
französische Regierung entsandte zwei Dampfschiffe, die Cella und die Djenne ,
um die französischen Sportler sicher heimzuholen. Denen hätte Karl sich anschließen
können. Doch die Schiffe kehrten fast ohne Passagiere nach Frankreich zurück.
    Die
Anarchisten besaßen in Barcelona seit Jahrzehnten eine Hochburg. Schon um 1910
herum waren über achtzig Prozent der Arbeiter Mitglied in einer
anarcho-syndikalistischen Gewerkschaft gewesen, der CNT (Confederación National
de Trabajo), die selbst im Jahr 1936 bei einer Million Organisierter nur einen
einzigen bezahlten Funktionär besaß. Die Anarchisten verstanden sich nicht als
politische Partei. Zu ihren Prinzipien gehörte es, sich nicht an
parlamentarischen Wahlen zu beteiligen und keine Regierungsposten zu
übernehmen. Sie wollten sich des Staates nicht bemächtigen, sondern ihn
abschaffen. Die CNT verfügte auch über keine finanziellen Reserven, nicht
einmal eine Streikkasse gab es. Ihre Widerstandsaktionen dauerten daher meist
nicht sehr lange, verliefen aber wirkungsvoll und betriebsnah, mit
revolutionären Mitteln, vom Streik bis zur Guerilla, von der Sabotage bis zum
bewaffneten Aufstand. Ihre illegale Arbeit überließ sie einer
Geheimorganisation, der FAI (Federación Anarquista Ibérica). Deren Kadergruppen
hatten die Aufgaben der Selbstverteidigung, Waffenversorgung, Geldbeschaffung,
Gefangenenbefreiung, des Terrorismus und der Spionage übernommen. Das Prestige
der FAI war unter den spanischen Arbeitern immens. Die großbürgerliche
Schrekkenspropaganda behauptete selbst jetzt noch, die FAI werde von Moskau
finanziell unterstützt, aber das war selbstverständlich Unsinn.
    Karl interessierte sich sehr dafür, wie denn ein »Staat«,
das Wort paßte ja nicht, also ein

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