Nicht ganz schlechte Menschen
Gemeinwesen unter anarchistischer Führung
aussehen würde. Zu seinem Erstaunen funktionierte alles, soweit er es
beurteilen konnte, ganz gut. Er verstand dabei nur nicht, wer im Endeffekt
beziehungsweise im Hintergrund die Befehle gab, es konnte ja nicht sein, daß
aufgrund von basisdemokratischen Entscheidungen immer gleich ein Konsens
erzielt werden konnte. Er stand dem Phänomen weiterhin mißtrauisch gegenüber
und hielt das Ganze zwar für originell, aber von einer momentanen Emphase der
Bevölkerung getragen. Würde diese verfliegen, kämen die Probleme von selbst.
Die
politische Lage nach dem Aufstand der rechten Putschisten gegen die legitim
gewählte Volksfront-Regierung war äußerst verworren schon durch die Vielzahl der
am Konflikt beteiligten Kräfte. Auf der einen Seite standen die Monarchisten,
die radikalmonarchistischen Karlisten, die Nationalisten, die faschistoide
Falange, die Partido Agrario der Grundbesitzer, die Konservativen und
Katholiken, die halbe Guardia Civil und ein paar andere gemäßigt rechte
Gruppierungen. Auf der anderen Seite standen die republikanische
Mitte-Rechts-Partei UR (
Unión Republicana
), die republikanische Linke IR
(
Izquierda Republicana
), die Sozialisten der PSOE (
Partido Socialista Obrera de
España
) mit ihrer Gewerkschaft UGT (
Unión General de Trabajadores
), die
stalinistischen Kommunisten der PCE (
Partido Comunista de España
), die
Linksmarxisten der POUM (
Partido Obrero de Unificación Marxista
) und die CNT
der Anarchisten sowie ein paar baskische Splitterparteien, darunter sogar
konservative Christdemokraten. Und – selbstverständlich – die andere Hälfte der
Guardia Civil.
Man hätte Stunden gebraucht, um die Kompliziertheit der
Vorgänge auch nur anzudeuten, denn die jeweils beteiligten Lager bekämpften
sich untereinander oft mehr als gegeneinander.
Karl fühlte sich nach Wochen noch zu verunsichert, um zu
entscheiden, wohin er gehörte.
Eben wurden in der Lepanto-Kaserne (alsbald in Lenin-Kaserne
umbenannt) unter der Stabsführung der frischgegründeten moskautreuen PSUC ( Partit Socialista Unificat de Catalunya ), die der Fusion
der PSOE und der PCP ( Partit Català
Proletari ) entsprang, Freiwillige für eine erste Internationale
Brigade rekrutiert. Es konnte nicht schaden, sich dort einmal umzusehen. Auf
dem Hof wurde mit Holzgewehren exerziert, das war nachvollziehbar;
wirkungsvollere Waffen wurden an der Front benötigt. Karl betrat das
Rekrutierungsbüro und hatte Schwierigkeiten, sich verständlich zu machen,
schließlich geriet er an einen noch jungen Kommissar in Zivil, der leidliches
Englisch sprach. Er stellte sich ihm vor, legte seinen inzwischen zerfledderten
Mitgliedsausweis der KPD auf den Tisch, ließ auch
nicht unerwähnt, daß er als Schach-Sportler ins Land gekommen sei, denn der
schmallippige Kommissar, eine halbe Portion von Mensch mit fast weiblichen
Händen, schien, das verriet sein Akzent, Russe zu sein, und in Rußland war das
Schachspiel populär wie sonst nirgendwo. Der Kommissar reagierte kaum, nur mit
den Worten:
Sportler, aha?
Woraufhin er einen abschätzigen Blick auf Karls Bauchgegend warf.
Danach legte er ihm ein Papier vor, das Karl unterschreiben und sich dann beim
Quartiermeister melden solle.
Ich hätte noch ein paar Fragen.
So?
Ich bin Pazifist. Und Journalist. Geübt im Umgang mit dem Wort.
Der Kommissar lehnte sich spontan zurück.
Und?
Karl bat darum, keinen Dienst an der Waffe leisten zu müssen, er sei
ein Geistesmensch und am Gewehr viel weniger nutzbringend als etwa in der
Schreibstube. Seiner Überzeugung nach sei die Feder, in der richtigen Hand,
stärker und wirkungsmächtiger als das Bajonett.
Dann sollen wir unsre Soldaten mit Schreibkielen ausrüsten, ja?
Nein, meinte Karl, er habe doch gesagt: in der richtigen Hand, eben
seiner. Ihm widerstrebe es, auf Menschen zu schießen, selbst auf Faschisten,
die ja auch nur fehlgeleitete und in den meisten Fällen noch umzustimmende
Kreaturen, also potentiell Menschen seien.
Der Kommissar öffnete den Mund.
Faschisten. Potentiell Menschen. Aha?
Ihrer äußeren Erscheinung nach, ja. Durchaus. Ich habe den Marxismus
studiert und halte mich für fähig, ihn argumentativ effektvoll zu vermitteln.
Gerne würde ich bei einer Zeitung arbeiten, oder –
Hier bereits schnitt ihm der Kommissar das Wort ab.
Er solle froh sein, ein funktionierendes Gewehr zu bekommen, und den
Rest gefälligst der Partei überlassen, die wisse am besten, wo
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