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Nicht ganz schlechte Menschen

Nicht ganz schlechte Menschen

Titel: Nicht ganz schlechte Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Krausser
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Julie
Geising, geborene Bertin, verschieden war. Ein Doktor Gremoulins hatte den
Totenschein unterzeichnet. Die Beisetzung nach katholischem Ritus könne mit dem
Einverständnis des Ehemannns erfolgen, hierfür sei seine Anwesenheit nötig, es
sei denn – es folgten mögliche Gründe von höherer Gewalt, die Pierre eine
Entschuldigung angeboten hätten. Er riß sich mit letzter Kraft zusammen und
unternahm die Reise, wenngleich er Angst hatte, beim Begräbnis die
Fassung zu verlieren.
    Wie würde er sich jemals verzeihen können, seine Frau in ihrem
Sterben alleingelassen zu haben? Statt dessen hatte er sie aller möglichen
Umtriebe verdächtigt, nur aufgrund der Aussagen eines alten Weibes mit einem
Brot auf dem Kopf. Seine verstorbene Gattin noch einmal zu sehen, lehnte er ab.
Als die vier von der katholischen Gemeinde Menton bestellten Träger Julies Sarg
an den Seilen ins Erdloch hinabgleiten ließen, dabei keine Miene verzogen, ja
eher wie von einer alltäglichen Last endgültig befreit wirkten, weinte Pierre
und ging auf die Knie. Das Ehepaar Arac kondolierte.
    Von der Begräbnisrede des Pfarrers, einem fernen, unwirklichen
Bla-Bla, bekam er nichts mit. Es wäre nun an ihm gewesen, als erster ein
Schäufelchen Erde auf den Sarg zu werfen. Er verzichtete, begann zu rennen und
erreichte, außer Atem, den Mittagszug nach Paris.

VON DER ZERBRECHLICHKEIT DER ZEIT
    Sie ist also tot. Was machen wir nun?
    Max stellte die Frage in ruhigem, sehr sachlichem Ton. Ellie wußte
nicht genau, worauf er abzielte.
    Was sollen wir denn machen? Müssen wir was machen?
    Pierre wird dich heiraten wollen.
    Aber erst nach der Trauerzeit. Frühestens in einigen Monaten. Bis
dahin kann doch alles weiterlaufen wie bisher.
    Max sah seiner Geliebten tief in die Augen und hörte dabei der
Färbung ihrer Worte hinterher, eine komplexe synästhetische Aktion. Wie sehr
wollte Ellie, daß alles weiterlief wie bisher – und weswegen genau? Wie sich
Ellie in den letzten Tagen um den deprimierten Pierre gekümmert und sogar zum
ersten Mal bei ihm übernachtet hatte, weil sie es akut für nötig hielt, das war
Max nicht geheuer gewesen. Zwischen ihr und dem Hotelier gab es längst nicht
nur eine sexuell-geschäftliche Verbindung, nein, eine freundschaftliche war
hinzugekommen, unzweifelhaft. Sie empfand etwas für diesen Mann.
    Max sah nachts oft in den Spiegel, wie um im eigenen Mienenspiel
eine Antwort zu lesen auf die beiden drängendsten Fragen: Würde er fähig sein,
sich damit auf Dauer zu arrangieren? Oder mußte er dem ein Ende setzen, sofort,
solange er noch – vielleicht noch – die Möglichkeit dazu besaß?
    Mir wäre sehr daran gelegen, sagte er jetzt, auf lange Sicht planen
zu können.
    Was bedeutet?
    Es läuft alles weiter wie bisher.
    Du verwirrst mich.
    Ich habe manchmal tatsächlich das Gefühl, daß du verwirrt bist. Dabei
ist die Sache höchst simpel. Ich möchte dir heute und immer vertrauen.
Einfacher geht es nicht.
    Wovon genau redest du denn jetzt?
    Lenk bitte nicht mit Fragen ab, wo Antwort verlangt wird. Kann ich
dir vertrauen? Sag ja oder nein. Klipp und klar.
    Aber ja doch.
    Ellies Art, jede Gelegenheit zum Pathos zu vermeiden, enervierte
mitunter. Aber
ja doch . Was war das für ein Satz? Ohne Verb und Substantiv. Ohne
Subjekt und Objekt. Hätte sie nicht sagen können: Ja, lieber Max, du kannst mir vertrauen,
heute und immer. Du bist der Mann meines Lebens . Oder konnte man
solche Sätze nur von Bühnen herab hören?
    Max fehlte es an Mut, sich einzugestehen, was genau er wollte,
wiewohl das mögliche Ziel, wenn auch noch unleserlich, vage und amorph, am Horizont seiner
Seele geschrieben stand . So drückte er sich aus, wenn er
spätnachts betrunken versuchte, seine Gedanken in Worte zu fassen. Wie meist,
war der lyrische Tonfall Näherung und Verdrängungsmechanismus zugleich, ein
Versuch, sich möglichst viele Optionen offenzuhalten, während doch all sein
Denken und Wünschen auf ein Szenario zielte, in dem Pierre zuletzt entmachtet und
ausgeschaltet sein würde. Max litt bald weniger unter seiner Eifersucht als
unter dem Verdacht, ein kleinbürgerliches Denken und Besitzstreben habe ihn
ereilt. Er befand sich in einer Situation, die aufgrund ihrer weitgefächerten
Möglichkeiten mit den beteiligten Menschen zu spielen, zu jonglieren begann.
Nein, er war nicht länger Herr der Lage, auf keinen Fall. Das Gegenteil zu
behaupten, wäre einem Selbstbetrug gleichgekommen. Ellie war keine berechenbare
Variable.

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