Nicht ganz schlechte Menschen
wechselhaften
Stimmungsgemenges. Es gab konkrete Alltagserlebnisse, die seinen Argwohn
erregten, andere, die relativierend wirkten. Manchmal auch beides in einem. So
mußte er eines Nachmittags zusehen, wie Plakatkleber der PSUC einen Halbwüchsigen, der ihnen eine Beleidigung nachgerufen hatte, in die
Besinnungslosigkeit prügelten.
Er ist doch noch ein Junge! rief Karl seinen Gesinnungsgenossen von
der anderen Straßenseite aus zu. Einer der Plakatkleber, der größte und
kräftigste, rannte daraufhin auf Karl zu, der, vor Furcht erstarrt und im
Glauben, den größten Fehler seines Lebens gemacht zu haben, stehenblieb. Auch
weil davonzulaufen bei seiner Kurzatmigkeit keine vielversprechende Option
gewesen wäre. Und was geschah? Der Plakatkleber stellte sich breit vor ihn hin.
Statt Karl einen Hieb zu versetzen, begann er, ihm die Aktion zu erläutern.
Stell dir vor, Mensch, wir haben selber Augen im Kopf. Daß das ein Junge ist,
wissen wir, deshalb lassen wir ihn ja auch am Leben. Aber SYPHILITISCHE
MUTTERFICKER schimpft uns keiner, kein Rotzbengel, kein alter Sack,
niemand. Bist du damit einverstanden?
Karl nickte zustimmend und übte zerknirscht Selbstkritik. Er habe
sich eingemischt, ohne alle zugrundeliegenden Aspekte des Vorgangs zu kennen,
dafür bitte er um Entschuldigung. Der Plakatkleber akzeptierte Karls Erklärung
und winkte ihn weg.
Bei aller Erleichterung darüber, so billig davongekommen zu sein,
war Karl doch Stunden später noch fasziniert von dem Szenario. Der Halbwüchsige
hätte in der Tat keine so grobe Beleidigung ausstoßen dürfen, vor allem als
einzelner gegenüber drei viel kräftigeren Männern. Eine Teilschuld an dem
Exzess mußte ihm angelastet werden, keine Frage.
Ähnlich verhielt es sich im großen Maßstab. Wo andere vor
Verzweiflung über die drohende Tragödie die Fassung verloren, blieb für Karl vieles, ja das meiste im
logischen Rahmen. Seine Erwartungshaltung filterte und färbte die
Wahrnehmung simpelster Sachverhalte. Karl hatte von Anfang an den Sturz der
Anarchisten als politische Notwendigkeit vorhergesehen. Daher fiel es ihm
schwer, das Vorgehen, das zu diesem Sturz führen mußte, als brutal, ja
ungeheuerlich einzustufen oder darin gar ein leichtfertiges Aufs-Spiel-Setzen
der höheren Sache zu erkennen. Militärisch spielten die Anarchisten, soviel er
wußte, doch kaum noch eine Rolle. Selbst Duruttis legendäre Truppe hatte, als
sie in Madrid das erste Mal unter feindlichem MG -Feuer gelegen war, versagt. Wenngleich
Karl die Aktionen der PSUC teilweise übertrieben fand, als
Kanonenschüsse auf Mückenschwärme, ging er von einem rein kriegsstrategisch
legitimierten Motiv aus. Wer wäre er denn auch gewesen, um Stalins Pläne in
Zweifel zu ziehen? Der große Genosse in Moskau verfügte über viel präzisere
Informationen. Er würde am besten wissen, was die Lage erforderte.
Selbst wenn die Anarchisten sich entschlossener und energischer gewehrt
hätten, als die Kommunisten (und die Zentralregierung in Madrid) mit
Flugblättern und Brandreden zu attakkieren – viel Beifall seitens der
Bevölkerung wäre ihnen nicht mehr zuteil geworden.
Sobald das Proletariat nach Grundnahrungsmitteln Schlange stehen
muß, glaubte Karl, wird es seine Gunst immer denen zuwenden, die imstande sind,
dem Mangel Abhilfe zu schaffen. Im Zweifelsfall genügt ein mehr oder minder
glaubhaftes Versprechen. Binnen weniger Monate verfünfzigfachte sich die
Mitgliederzahl der KP . Und auch Karl fand es nun
sinnvoll, ihr beizutreten. Als politisch nicht eindeutig positionierter
Deutscher war man in Barcelona lange nicht mehr so beliebt wie vor Hitlers
Engagement für Franco.
Die KP hieß den Studenten Karl Loewe
sehr herzlich willkommen. Aufgrund seines deutschen Parteibuches begrüßte man
ihn gar als bewährten Genossen und Widerstandskämpfer. Ihm wurde angetragen,
sich zu freiwilliger Parteiarbeit zu verpflichten. Auf seine Frage, welche
Möglichkeiten es da gebe, wurde zurückgefragt, worin seine Möglichkeiten
bestünden. Plötzlich und endlich
schienen Karls Fremdsprachenkenntnisse von Wert zu sein und entsprechend
gewürdigt zu werden. Man bot ihm eine Stelle beim kommunistischen Rundfunksender PSU -1 an. Die Arbeitszeit sei mit seinem Studium verträglich und betrage nur zwei
Stunden pro Tag. Er könne frei wählen, ob er lieber von fünf bis sieben Uhr
morgens oder in den beiden Stunden vor Mitternacht zum Einsatz kommen wolle.
Karl entschied sich für die Zeit vor Mitternacht; ein
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