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Nicht ganz schlechte Menschen

Nicht ganz schlechte Menschen

Titel: Nicht ganz schlechte Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Krausser
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beizubringen, ungeachtet der Klassenfrage.
Zumal sich Sebastián als reizendes Kind und gelehriger Schüler erwies. Karls
Befinden besserte sich merklich, er genoß das Gefühl, für sich eine kleine
Lösung gefunden zu haben.
    Barcelona glich nicht mehr der Metropole, in die er sich im letzten
Juli verliebt hatte. Zwar behaupteten die rot und schwarz angestrichenen
Trambahnen noch immer den Sieg der Arbeiterklasse, und auf dem Hügel jenseits
der Plaza España, dem gemeinsamen Exerzierplatz aller Parteimilizen, herrschte
reges Treiben, doch die kameradschaftliche, im besten Sinne sportliche
Konkurrenz war einem zunehmenden Mißtrauen gewichen. Die Stadt verlor an
Frohsinn und Verve. Das hing unmittelbar mit der Lebensmittelversorgung
zusammen, vor den Geschäften bildeten sich lange Schlangen für Milch und Brot.
Fleisch wurde kaum noch angeboten. Es fanden seit einiger Zeit auch keine
Stierkämpfe mehr statt, das hatte seinen Grund allerdings nicht darin, daß man
die Stiere aufgegessen hätte, sondern darin, daß praktisch alle guten Matadore
Faschisten gewesen waren.
    Das
Stadtbild verluderte zusehends, viel Müll und Schutt blieb einfach liegen, und
aus Angst vor Luftangriffen wurde die Straßenbeleuchtung stark reduziert. Das
zuvor so rege Nachtleben war, abgesehen von einigen trüben und gefährlichen
Tavernen, zum Erliegen gekommen. Amüsierbetriebe und Revuen, so es sie
überhaupt noch gab, zeigten ein deutlich entschärftes Programm. Wo vorher
Nackttänze eher die Regel gewesen waren, galten sie dank der bemerkenswerten
revolutionären Prüderie als Darbietungen, die nicht mit der Menschenwürde zu
vereinbaren seien. Entgegen vielen klischeehaften Vorstellungen pflegten die
meisten Anarchisten ein strikt monogames Weltbild. Mehr als einen Partner oder
eine Partnerin zu haben, kam ihnen unnatürlich bis ekelhaft vor.
    Cafés,
in denen zuvor eine hochentwickelte Debattierkultur geherrscht hatte, glichen
immer mehr Vereinslokalen, geschlossenen Gesellschaften, in denen der
Andersdenkende nicht länger willkommen war. Zusammenstöße und Schlägereien
endeten nicht selten in Schußwechseln. Karl fühlte sich ans Berlin der frühen
Dreißiger erinnert, an die Zeit der Saalschlachten und politischen Morde.
    Es gab weitere Phänomene, die die Atmosphäre verdüsterten. Dazu
gehörte zum Beispiel, daß kaum noch Frauen Dienst an der Waffe taten. Während
der Revolution hatten gewehrtragende Frauen und Mädchen wie selbstverständlich
zum Straßenbild gehört und zu einer gewissen militanten Erotik beigetragen. Dem
grobschlächtigen Mundwerk der Arbeiter wurden wochenlang Zügel angelegt. Ein
nicht unwichtiger Aspekt, ein Mosaikstein, der dem Aufstand seinen besonderen
Esprit verlieh. Nun wurden jene Kämpferinnen ungeachtet ihrer Verdienste als
Walküren und Flintenweiber verspottet und zurück in die Häuser gezwungen, von
Männern, die tief aus ihrem Inneren den alten Macho hervorkramten. Vielleicht
einfach nur, weil sie wieder unter sich und grobschlächtig sein, ihren Frust
loswerden wollten. Kommunisten und Anarchisten bauten ihre jeweiligen
Parteizentralen zu Festungen aus, mit MG -Nestern und
Sandsäcken vor den Eingängen – bald stellte sich nurmehr die Frage, wann es
zum blutigen Zusammenstoß kommen würde.
    Weil
Hitler und Mussolini die Truppen Francos mit Kriegsmaterial in ungeahntem
Ausmaß versorgten, sahen sogar viele Anarchisten die einzige Rettung in Stalin,
der die Waage, zumindest vorerst, einigermaßen im Gleichgewicht halten konnte.
Stumm, beinahe duldsam hatte die anarchistische Führungsriege ihre stetige
Entmachtung ertragen, hatte auf ein militärisches Wunder gehofft, einen
schnellen Sieg der Loyalisten, nach dem man sich wieder um den inneren Feind
kümmern konnte. Die Sowjetkommissare, die zu Tausenden ins Land strömten, waren
ganz anders gestrickt. Sie traten auf, als bestünde das erste und vorrangige
Kriegsziel im Niederringen der Anarchie. Manche Beobachter beschlich der
Verdacht, daß Stalin an einem Sieg in Spanien nicht viel lag, solange nur die
Idee der permanenten Revolution diskreditiert sein und verschwinden würde.
    Wer,
wie Karl, im Zentrum dieser Vorgänge, gleichsam im Auge des Orkans, sein
ohnehin nicht sehr aufmerksames, von ideologischen Scheuklappen behütetes
Dasein fristete und keinerlei Möglichkeit besaß, die Lage von außen und
vernünftig, nach Abwägung aller Fakten zu beurteilen, nahm die Veränderung nur
schleichend wahr, auf der Ebene eines diffusen, sehr

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