Nicht ohne dich
Trost zu suchen, doch als sie ihr Gesicht an meines legte, spürte ich, dass es ganz heiß war. Sofort überkam mich wieder die Angst. Ich löste mich aus der Umarmung und sah sie an. Ihr Gesicht war hochrot und ihre Augen waren glasig, und jetzt begann sie sich auch noch die Lunge aus dem Leib zu husten. Sie war genauso mager wie ich. Das Haar hatte man ihr nicht abgeschnitten, aber darüber konnte ich mich nicht freuen vor lauter Sorge, sie könnte Tuberkulose oder eine Lungenentzündung haben.
»Mama«, sagte ich, »du hast Fieber, du musst zum Arzt.«
Sie schüttelte den Kopf. »Es ist nichts. Nur eine Erkältung. Jenny, deine Haare! Mein armer Liebling!«
Brettmann meldete sich von vorn zu Wort: »Wir haben Aspirin im Auto, gnädige Frau, falls Ihnen damit geholfen ist. Weil Frau Hansen oft Kopfschmerzen hat. In dem Stauraum zwischen den Sitzen. Dort ist auch eine Flasche Mineralwasser und ein paar Kekse, wenn Sie mögen.«
»Ja, ich möchte ein paar Aspirin, bitte«, sagte Mama und hustete erneut.
»Ich hole dir welche raus«, sagte ich und öffnete das Behältnis aus Mahagoni. Darin befanden sich vier Kristallgläser, eine silberne Pillendose und zwei kleine Flaschen Mineralwasser. Auch ein Fläschchen Cognac war da, aber ich glaubte nicht, dass der Mama guttun würde. Die Kekse lagen in einer weiteren Silberdose – kleine Zuckerbrezeln für Tante Grete zum Knabbern.
Mama wollte keinen Keks, aber ich selbst aß einen, nachdem ich ihr die Aspirintabletten und ein Glas Wasser gegeben hatte. Dann konnte ich mich nicht zurückhalten, noch eine zweite Brezel zu nehmen und eine dritte, bis ich sie alle verschlungen hatte.
»Mama, wo haben sie dich hingebracht?«, fragte ich.
Sie erschauderte. »Nach Ravensbrück.«
Sie war also ganz in meiner Nähe gewesen.
»Herr Brettmann, fahren Sie uns nach Hause?«, erkundigte sie sich.
»Nein, Frau Friedemann«, entgegnete er. »Zu den Hansens.«
Gut, dachte ich, denn wir hatten keine Lebensmittelmarken, und im Vorratsschrank war bestimmt nichts Essbares mehr. Außerdem hatte ich keine Ahnung, ob das Haus überhaupt noch stand.
Mama schlief ein, nachdem sie die Tabletten genommen hatte. Obwohl auch ich müde war, saß ich kerzengerade in meinem Sitz, machte mir Gedanken darüber, wie krank sie wirkte, und spann weiter meine düsteren Gedanken. Ich hatte im Lager Mädchen mit Husten erlebt, deren Zustand sich rasch verschlechterte. Man hatte sie fortgebracht und sie waren nie zurückgekommen. Uns war klar gewesen, dass sie nicht überlebt hatten. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass Mamas Entlassung aus Ravensbrück vielleicht zu spät gekommen war.
Dann wurde mir übel. Ich musste Brettmann bitten anzuhalten, stieg aus und erbrach mich in das braune Wintergras am Straßenrand. Ich sah all die Kekse in dem Erbrochenen, und das Brot und den Käse, die ich vor meiner Abfahrt aus Uckermark verzehrt hatte. Brettmann wirkte ziemlich bestürzt, als er mir die Tür öffnete, um mich wieder einsteigen zu lassen. Ich wusste, dass es meine Schuld war, die Lagerleiterin hatte mir erklärt, dass ich krank würde, wenn ich zu viel äße – und jetzt war es so gekommen.
Ich war froh, dass es im Wagenfond Vorhänge gab. Es wäre mir unangenehm gewesen, wenn Leute zu uns hereingeblickt und gewusst hätten, dass wir im KZ gewesen waren.
Dann stand ich vor dem Haus der Hansens, schwarz und weiß ragte es in all seiner künstlichen Pracht vor mir auf wie eh und je, wenn ich an all den vielen Sonntagen in meinen besten Kleidern zu Besuch gekommen war. Minna öffnete uns die Tür und machte einen Knicks, aber das mitleidige Entsetzen in ihren Augen ließ mich zusammenzucken.
Und noch jemand war da. Muffi. Sie quietschte und jaulte vor Freude, wedelte wie wild mit dem Schwanz, hechelte und produzierte auf dem Parkett eine Pfütze.
Ich bückte mich und umarmte sie, spürte ihren warmen, übel riechenden Hundeatem an meinem Gesicht. Mama streckte die Hand hinunter und tätschelte ihren Rücken. Muffi kam wackelnd an sie heran und wuselte aufgeregt um sie herum. Sie spürte, dass Mama krank war.
Onkel Hartmut kam den Flur entlang. »Ihr seht furchtbar aus«, sagte er schaudernd. »Alle beide. Sylvia, du legst dich am besten sofort ins Bett.«
Ich fragte: »Wo ist Tante Grete?«
»Ich habe sie überredet, zu den Mädchen zu fahren und dort zu bleiben«, erklärte er. »Die Bombardierungen haben ihre Nerven angegriffen. Heute Morgen habe ich sie angerufen und ihr gesagt,
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