Nicht ohne dich
Zeit hier nicht. Unser Ziel ist, den Charakter zu formen, und das dürfte niemandem schaden.«
Ich starrte sie an, ohne zu wissen, welcher Gesichtsausdruck in dieser Situation angemessen wäre. Allerdings kam es mir jetzt eher wahrscheinlich vor, dass ich richtig gehört hatte. Sie wollten mich entlassen.
Sie sagte: »Du hast gesehen, wie schwer wir es mit den verdorbenen Mädchen haben, die hier landen. Dass wir keine Mühen scheuen, sie zu läutern. Hart, aber gerecht, das ist meine Devise.«
Ich brachte ein Nicken zustande. Dabei dachte ich an Luise und Erna. Luise war hier gelandet, weil sie nett gewesen war, und Erna, ja, die war Prostituierte, aber machte sie das zu einem schlechteren Menschen als die Lagerleiterin? In meinen Augen nicht.
Die Lagerleiterin sprach jetzt mit der Sekretärin. »Hat sie zu essen bekommen, Frau Schmidt?«
»Ja, Frau Direktor. Nur eine kleine Mahlzeit, wie Sie geraten haben.«
»Gut. Wir wollen ja nicht, dass sie krank wird, weil sie zu viel auf einmal zu sich nimmt. Wie lange ist das her?«
»Eine Stunde.«
»In einer Stunde wird sie von einem Wagen abgeholt. In der Zwischenzeit kann sie noch ein bisschen was bekommen.« An mich gewandt erklärte sie: »Wenn du gleich über das erste Essen herfällst, das dein Onkel dir gibt, bekommt er vielleicht einen falschen Eindruck.«
Mein Onkel. Die Grendel hatte meinen Brief also doch überbracht. Ich hätte überglücklich sein müssen, aber es kam mir alles immer noch so unwirklich vor. Und ich musste die ganze Zeit an Luise und Erna denken. Ich kam von diesem schrecklichen Ort weg, sie nicht. Das war nicht gerecht.
Während ich dasaß wie betäubt, hatte die Lagerleiterin mit der Sekretärin gesprochen. Irgendwas über meine Kleidung und darüber, sie aus der Aufbewahrung zu holen. Nun, es wäre wohl unpassend gewesen, mich Onkel Hartmut und Tante Grete in der Lageruniform zu präsentieren. Die Sekretärin verließ den Raum.
Jetzt sah mir die Lagerleiterin direkt ins Gesicht, die Stirn gerunzelt. »Friedemann«, hob sie an, »vielleicht brauche ich bald jemanden, der für mich ein Wort einlegt.« Sie sprach hastig, fast heimlichtuerisch, so, als wollte sie selbst nicht hören, was sie da sagte. Da saß ich mit meinen geschorenen Haaren und schmutzstarrenden Füßen und sie versuchte, sich bei mir einzuschmeicheln. Die Grendel musste ihr von meinem Verwandten, dem englischen General, erzählt haben.
In ihrem Gesicht zuckte es. »Ich hoffe, ich kann auf dich zählen.«
Ich dachte: Oh ja, du kannst dich darauf verlassen, dass ich jedem, der es wissen will, alles über diese Hölle berichte, die du hier geschaffen hast. Trotzdem nickte ich. Ich wusste, das musste ich tun.
Die Sekretärin kam mit meinen Kleidern zurück. Jemand hatte sie gewaschen, das war mir nur recht, denn im Gefängnis waren sie dreckig geworden. Ich selbst war allerdings immer noch schmutzig.
»Du möchtest sicherlich duschen, Friedemann. Schmidt, führen Sie sie in mein Badezimmer. Dort kannst du dich auch umziehen. Danach geben Sie ihr einen kleinen Imbiss, Schmidt – Brot und Margarine am besten. Und ein Stückchen Käse, und einen Kaffee. Von meinem.«
Ich bekam richtigen Bohnenkaffee. Das Duschwasser war heiß, und es gab Shampoo und Seife und ein richtiges, dickes Handtuch. Ich konnte immer noch kaum fassen, was da geschah.
Als ich hinausging, kam die Sonne heraus und ließ Onkel Hartmuts glänzenden schwarzen Mercedes, der vor dem Büro stand, blitzen. Die Lagerleiterin war mitgekommen, um mich zu verabschieden.
»Denk daran«, sagte sie, »du bist hier fair behandelt worden.« In ihrer Stimme lag ein schmeichelnder Unterton und gleichzeitig ein Hauch von Drohung. Ich nickte erneut.
Brettmann öffnete mir die Wagentür. Ich konnte kaum glauben, dass er in seiner schmucken Uniform tatsächlich hier war, an diesem Ort mit den Wachtürmen und dem hohen Stacheldrahtzaun. »Heil Hitler, Fräulein Jenny«, begrüßte er mich. »Bitte, steigen Sie ein.«
Er sprach mit mir wie mit einem Filmstar oder einer Nazigröße. Bestimmt war er schockiert über meinen Anblick, doch er ließ sich nichts anmerken. Ich rutschte in den Fond des nach Leder riechenden Wagens. Dann sah ich, wer da außerdem noch saß.
»Mama!«, rief ich und begann zu weinen. »Oh, Mama!«
Brettmann steckte den Schlüssel ins Zündschloss und ließ den Motor an. Das Auto glitt davon und ließ das Lager hinter sich.
Mama streckte die Arme nach mir aus. Ich sank hinein, um bei ihr
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