Nicht ohne dich
sie rollte sich unter der Bettdecke an mich gekuschelt zusammen. Mitten in der Nacht schreckte ich plötzlich aus dem Schlaf hoch und wusste, dass auch Mama wach war. Ich streckte meine Hand zu ihr hinüber. Sie glühte.
»Bitte mach das Licht an, Jenny«, sagte sie. »Mein Schatz, im Bad ist Aspirin. Kannst du es mir holen?«
Als ich mit den Tabletten zurückkam, meinte sie: »Ich glaube immer noch, ich träume nur, dass du bei mir bist.«
Ich erzählte ihr nicht, dass wir am Morgen abreisen mussten. Sie sollte nicht wach liegen und sich sorgen. »Ich bin da, Mama«, sagte ich und küsste ihr glühendes Gesicht. Minna hatte eine Thermosflasche mit Hühnerbrühe auf den Nachttisch gestellt. Ich nahm sie von dem silbernen Tablett und schenkte Mama eine volle Tasse ein. Sie trank sie bereitwillig und schlief dann wieder ein.
Um halb fünf wurden wir von Minna geweckt. Zu meiner Erleichterung war Mama nicht mehr so heiß. Als ich ihr erzählte, was Onkel Hartmut gesagt hatte und wo wir hinfuhren, zog sie eine Grimasse, zuckte mit den Schultern und meinte: »Na dann, wir wollen ihn ja nicht in Angst und Schrecken versetzen, indem wir uns noch länger hier aufhalten.«
Sie schaffte es, zum Frühstück ein Brötchen mit Butter zu essen und noch einmal Hühnerbrühe zu trinken. Ich dachte: Vielleicht ist es doch nur eine Erkältung. Aber ich hätte mir so gewünscht, dass sie im Bett blieb und ein Arzt kam.
Minna suchte aus der großen Auswahl in Tante Gretes Ankleidezimmer warme Mützen für uns aus. Meine verdeckte meinen Häftlingsschnitt. Und sie drückte mir eine Einkaufstasche in die Hand, die, das war mir klar, mit Essen gefüllt war.
»Es ist eine Schande«, sagte sie erbittert. »Euch so vor die Tür zu setzen. Wenn die Herrin das erfährt, wird sie ihm gründlich den Kopf waschen, Fräulein Jenny!«
Da war ich mir nicht so sicher, aber ich war inzwischen zu sehr in Sorge, um noch böse auf Onkel Hartmut zu sein. »Danke, Minna. Für alles«, sagte ich und gab ihr einen Kuss – so, wie ich Katrin immer geküsst hatte –, und sie umarmte mich.
»Du bist ein liebes Mädchen«, sagte sie.
Um halb sechs fuhr uns Brettmann nach Dahlem hinüber. Ich sorgte dafür, dass er uns ein paar Straßen von Agnes Hummels Haus entfernt absetzte. Und, um wirklich auf Nummer sicher zu gehen, auch nicht in der Nähe von Herrn von Himmelreins Villa. Ich wollte ihm nicht begegnen, wenn er einen frühmorgendlichen Spaziergang unternahm. Onkel Hartmut hatte Brettmann angewiesen zu warten, für den Fall, dass wir niemanden antrafen. Ich bat ihn, uns eine Dreiviertelstunde Zeit zu geben. Wir gingen durch das neblige Dämmerlicht. Auf meinen einen Arm stützte sich Mama, die Tasche mit dem Essen trug ich im anderen Arm, meine Faust umschloss Muffis Leine.
Als wir die Quellengasse erreichten, sah ich, dass das letzte Haus bombardiert worden war. Um die Angst nicht so zu spüren, biss ich mir auf die Unterlippe. Agnes Hummels Haus konnte ich nicht erkennen, der Nebel beeinträchtigte die Sicht. Wir gingen weiter die Straße entlang, und dann sah ich die Blautannen und dahinter das Haus. Es stand noch. Mir wurde ein wenig leichter ums Herz, doch bald begann ich mir Sorgen zu machen, sie könnte ebenfalls verhaftet oder auch nur ausgegangen sein.
Das Holztor öffnete sich genauso leise wie bei meinem letzten Besuch hier. Nachdem ich es hinter uns sorgfältig wieder geschlossen hatte, gingen Mama, Muffi und ich auf die Eingangstür zu. Jetzt blühten dort Schneeglöckchen, ihre weißen Köpfchen hingen in den Weg hinein.
Ich klopfte leise. Niemand kam. Drinnen hörte ich wieder die Uhr ticken. Mir fielen ihre Tochter und ihre Enkelin in Heidelberg ein. Wenn sie sie nun besuchen gefahren war? Dann hörte ich Schritte im Flur, und die Tür öffnete sich ebenso geräuschlos wie zuvor das Gartentor.
»Kommt herein«, sagte Agnes Hummel.
Kapitel Sechsundzwanzig
A uf einmal war ich voller Hoffnung. Ich sah mich im Flur um – vielleicht öffnete sich ja eine Tür und Raffi kam heraus? Agnes Hummel schüttelte mit Blick auf mich den Kopf. Mir wurde das Herz schwer, und ich befürchtete, sie könnte denken, dass wir wegen ihm gekommen waren, obwohl die andere Frau gesagt hatte, es sei besser, wir wüssten nicht, wo er sei. Vielleicht ärgerte sie sich über uns.
Mama begann wieder zu husten.
»Es geht Ihnen nicht gut«, sagte Agnes Hummel zu ihr. Sie war nicht verärgert. Ihre Stimme war voll echter Wärme und Besorgnis. Ich begann
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