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Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)

Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)

Titel: Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meral Al-Mer
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mich?«
    »Ja«, antwortete der Ziegenhirte.
    »Dann geh zu meinen Eltern«, befahl ihm Saliha, »und bitte sie um meine Hand.«
    Und so ist es geschehen. Doch nachdem Mourad in Deutschland war, bekam Saliha schwere Depressionen.
    »Noch ein Jahr nachdem er ihn geholt hatte, hatte ich die Schreie meines Sohnes im Ohr. Nachts schreckte ich auf, hatte schlimme Träume. Da brachte mich die Familie zu einem Hodscha …«
    Mir läuft es kalt den Rücken hinunter, ich hatte viel zu viele seltsame Geschichten über diese Hodschas gehört. Hokuspokus, so scheint mir. Da werden Suren aus dem Koran gelesen oder auf ein Stück Papier geschrieben und in Amulette gesteckt. Oder der Hodscha taucht das Stück Papier in Wasser, und das wird dann getrunken wie ein Heilmittel. Oder der Zettel wird verbrannt, die Asche in das Wasser gerührt. Oft geht es bei diesen Dingen um Liebe, darum, dass sich ein Sohn von einer »schlechten« Frau abwenden soll oder dass die Liebe zwischen zwei Menschen erwacht. Ob der Hodscha Saliha helfen konnte?
    Sie zuckt mit den Schultern. »Besser ging es mir danach nicht. Das Leid ist geblieben. Hier ist es«, sie deutet mit der Hand auf ihr Herz. »Hier steckt es drin.«
    Ich habe furchtbar viele Fragen an meine Mutter, sodass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll. Fragen der Art, was wer wann wieso gesagt hat und was sie wann warum gedacht hat und überhaupt – wie das alles hat sein können. Ich habe mir immer vorgestellt, all die Jahre, was ich getan hätte, wäre ich an ihrer Stelle gewesen, und war zu dem Schluss gekommen, dass ich meine Kinder nicht so kampflos aufgegeben hätte. Nun, als ich da sitze, auf der Veranda des neuen Hauses mit dem Blick über blühende Rapsfelder, in denen Mohnblüten rote Kontraste setzen, und ihr zuhöre, schäme ich mich dafür, denn ich spüre, dass ich ihr Unrecht getan habe, damals, als ich in meinem Zimmer eingesperrt saß, und dachte: »Schwach! Schwach! Schwach!«, und: »Alles Feiglinge, Drückeberger, Jasager …!« Ich höre ihr zu, fühle, wie sie litt, und denke mir, dass ich ihr gar nicht erzählen kann, wie schwer ich es hatte, denn das Einzige, mit dem sie sich trösten konnte all die Jahre, war die Meinung: In Deutschland geht es meiner Meral gut, sie wächst bei ihrem reichen Papa und ihrer deutschen Mutter auf, behütet und verwöhnt, bekommt die beste Schulbildung, die man sich denken kann, und wenigstens sie führt ein Leben auf der Sonnenseite – dafür lohnt sich mein Verzicht. Ich höre ihr zu und frage mich, ob sie die Wahrheit über meine Kindheit auch noch wird verkraften können oder ob es zu viel für sie sein wird.
    Aber ich unterschätze Saliha. Außerdem weiß sie ohnehin längst Bescheid. Dass ich meinen Vater vor Gericht gebracht habe, ist auch bis zu ihr durchgedrungen. Doch um das Warum schlagen wir beide noch einen großen Bogen.
    »Ihr bleibt doch noch?«, fragt sie und schaut Beate unsicher an, die deutsche Freundin und Kollegin ihrer Tochter, die sie sofort wie eine Schwester in ihrem Haus aufgenommen hat.
    »Ja«, sagen wir, »wir bleiben noch, Mutter.«
    Und dann ist es Zeit, das Essen vorzubereiten. Die Männer haben vor dem Haus bereits den Grill angefeuert, es gibt Spieße mit Hühnerfleisch, Hühnerherzen und Leber. Dazu machen wir Reis und Salat.
    »Nein«, will meine Mutter abwehren, »du bleibst sitzen, du bist unser Gast, du brauchst nicht zu helfen.«
    Aber das kommt nicht in Frage. Ich soll Gast im Haus meiner Mutter sein? Im Nu bin ich in der Küche. »Ich mache den Salat«, verkünde ich, und so geschieht es.
    Ich bemerke – und es wird nicht das einzige Mal bleiben –, wie meine Mutter und Fatima mich aus den Augenwinkeln beobachten: wie ich mich schlage, ob ich weiß, was ich tun muss oder ob Kochen für mich fremdes Gebiet ist. Im Laufe dieser Tage beweise ich ihnen, dass ich das alles kann: Schließlich habe ich meine halbe Kindheit damit verbracht, Berge von Geschirr zu spülen, Tonnen von Kartoffeln zu schälen, Tiere auszunehmen, Suppen zu rühren, das komplette Haus zu putzen, zig Kinder auf einmal zu betreuen, Schuhe zu putzen, einzukaufen, Essen vorzubereiten, Tahze Fassulia, Prinic, Dolma, Couscous, Tabule …, schon mit elf habe ich Milchreis für meine kleinen Geschwister gekocht, und wenn mein Vater wollte, habe ich ihm ein Steak mit Pommes und Salat serviert. Besuch zu bedienen, Nüsschen in Schälchen zu bringen, Obst in hübsche, mundgerechte Stücke zu schneiden, Tee zu kochen, Tabak zu

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