Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
Wochen ist Saliha aus ihrer Lehmhütte in ein »richtiges« Haus eingezogen, das ihr Sohn ihr dorthin baute, wo vorher ihr Garten war: ein Haus mit Wohn- und Badezimmer, Toilette und Küche. Dafür hat Baris einen Kredit aufgenommen, den er noch viele Jahre lang abzahlen wird. »Ein guter Sohn«, denke ich, »einer, der für seine Mutter sorgt.«
»Das ist das Dorf«, unterbricht Mourad meine Gedanken und bremst ab. »Und hier hat unsere Mutter früher gewohnt. Siehst du den Baum dort im Garten und den Brunnen? Da habe ich die ersten fünf Jahre meines Lebens verbracht.«
Hier also hing Mourads Schaukel, hier lernte er laufen, hier lief er den Hühnern seiner Tante hinterher … Mourad gibt wieder Gas, wir biegen um eine Ecke, ein Holperweg zwischen Häusern aus Lehm, der Geruch von Ziegen, Kuhmist und Staub hängt in der Luft. Der Wagen kommt zum Stehen.
»Wir sind da«, zwitschert Fatima. Wir schälen uns aus dem kleinen Auto, ich bin darauf bedacht, dass den Häschen nichts passiert. »Wo ist die Pflanze, die ich ihr schenken will?«, fährt mir durch den Kopf.
»Mourad«, rufe ich, »die Blume ….« Ach, cool, da ist sie. Bin ich bereit? Es ist keine Zeit mehr, sich darüber Gedanken zu machen.
Und dann blicke ich endlich auf. Da steht sie. Ich kann es nicht glauben. Schlank, groß, eine stolze, hohe Gestalt. Sie trägt einen dunklen, langen schmalen Rock und ein anliegendes dunkel gemustertes T-Shirt. Ein Kopftuch. Sie ist wunderschön.
Wir gehen aufeinander zu, sie breitet die Arme aus. Und in diese Arme begebe ich mich, schlinge meine Arme um ihren aufrechten, festen, Halt bietenden Körper. Es ist, als wollte ein Ozean aus mir herausbrechen. Auf einmal weine ich ungehemmt, schluchze, Schleusen brechen auf, und ich denke, dass ich sie nie wieder schließen kann. Es ist ein Gefühl, als wäre ich jahrelang gelaufen, gerannt und nun endlich angekommen. Oft schon bin ich umarmt worden, doch nie hat es sich so angefühlt. Saliha weint nicht, sie strahlt mich an, wie es nur eine Mutter kann, und tut das Natürlichste von der Welt, sie küsst mich, mitten auf den Mund, schallend, mit einem Geräusch, das sich nach »Muak! Muak!« anhört, immer wieder, tröstende Küsse voller Annahme. Es fühlt sich überhaupt nicht fremd an, von ihr geküsst zu werden. »Mama!«, will ich sagen. »Mama!« Und ihr erzählen, was alles passiert ist in den letzten fast dreißig Jahren. Wie nach einem Ausflug, der länger dauerte als geplant.
Ich weine und wir lachen, sie trocknet mir meine Tränen mit dem Zipfel ihres Kopftuchs ab. Küsst mich wieder.
Eigentlich will ich den ganzen Tag einfach weiterweinen, alles rausspülen, bis der Ozean versiegt. Doch da sind die anderen, meine Geschwister, die ich kennenlernen möchte, der siebzehnjährige Yücel, die zwölfjährige Bediha, Abdullah, zehn Jahre alt. Und dann geht es weiter, der Moment ist vorüber, wir sind in Bewegung, und wenn ein Teil von mir auch immer noch unter dem mit Wein berankten Vorgarten in Salihas Umarmung dasteht und schluchzt wie ein Kind, so tritt der Rest von mir ins Haus, lässt sich herumführen und anfassen, beantwortet einen Berg von Fragen, packt Geschenke aus, stellt selbst Fragen, und mittendrin wundere ich mich, wundere mich, wie einfach es ist, wie wohl ich mich fühle, wie angenommen, wie froh.
26
Meine Mutter, die Wüstenkönigin
I ch habe überhaupt nicht damit gerechnet«, sagt Saliha am nächsten Morgen beim Frühstück, »dass dein Vater dich einfach mitnimmt. Alle deine Kleider waren hier, deine Puppe. Ich habe dich noch gestillt. Er sagte: ›Ich will sie schnell meinen Verwandten zeigen, die Tanten fragen nach ihr. Ich bin ganz bestimmt gleich wieder zurück.‹ Und dann kam er einfach nicht wieder …«
Tränen steigen ihr in die Augen, laufen ihr die Wange hinunter. Sie kann nicht anders. Nach all den Jahren tut es immer noch so entsetzlich weh.
»Die Familie wollte, dass ich das Kind abtreibe, das ich in meinem Bauch hatte, Mourad. Aber mein Vater hat mir geholfen. Und dann, als er da war, kam Hamid, und als er Mourad sah, wollte er auch ihn mitnehmen. Da hab ich mich gewehrt. Schließlich haben wir verabredet, dass er ihn holen kommt, wenn er fünf Jahre alt ist.«
Sie erzählt, wie sie ihren zweiten Mann kennenlernte, der sieben Jahre jünger ist als sie und eine Ziegenherde besaß. Er spielte oft mit dem kleinen Mourad. Schließlich rief sie ihn zu sich: »Hey«, sagte sie, »du spielst immer mit meinem Sohn. Willst du
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