Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
besuchten, und sie würde mich nicht gehen lassen? Was, wenn Beate am Abend zurück ins Hotel fahren würde, und ich bliebe alleine dort zurück? Und was, wenn Saliha mich überhaupt nie wieder gehen lassen würde, was sollte ich dann tun? Ich hatte eine solche Angst davor, dass sie meinen Besuch mit einer endgültigen Rückkehr verwechseln würde. Hamid hatte mich damals einfach entführt. Sie hatte mich gehen lassen in der Meinung, mich gleich wiederzusehen, und inzwischen waren fast dreißig Jahre vergangen – wer konnte es einer Mutter verdenken, wenn sie ihre Tochter nach all der Zeit dabehalten wollte?
An diesem ersten Tag gelang es mir, meine Sorgen zu verdrängen. Die spröde Schönheit der Stadt, die in der Antike Antiochia geheißen hatte und an dem sagenhaften Fluss Orontes liegt, der unter dem Balkon meines Hotelzimmers vorüberfloss, lenkte mich ab. Spätestens als wir in die Fülle des Basars eintauchten mit seinen Farben und Düften, lebte ich wieder auf. Wir schauten uns die Auslagen der Schmuckläden an, staunten über den prächtigen Goldschmuck, für den Antakya berühmt ist, wurden kleinlaut angesichts der Preise. Ich erinnerte mich daran, dass Elke mir zu meinem achtzehnten Geburtstag eine Kette mit einem großen Anhänger aus reinem Gold geschenkt hatte, der mir kurz darauf gestohlen wurde. Es war ein Geschenk von Hamid gewesen, das sie nach der Trennung nicht mehr haben wollte, und ich hatte kurz davon geträumt, mir hier etwas Ähnliches zu kaufen. In der Türkei ist es üblich, dass ein Bräutigam seine Braut zur Hochzeit üppig mit Goldschmuck beschenkt. Das wird von ihm erwartet, und erst jetzt wurde mir bewusst, in welche Ausgaben die Männer sich dafür stürzen müssen. Auch mein Bruder, der sich mit seiner Freundin verloben wollte, wurde ganz schweigsam angesichts der Preise. Ich dachte an Saliha, die ein Kilogramm Gold »wert« gewesen war – das sie verlor, am selben Tag wie mich, ihre Tochter.
An Nachmittag rief Mourad unseren ältesten Halbbruder an, Baris, der in die Sache mit unserem Besuch eingeweiht war. Nun wurde es ernst. Wieder wurde erwogen, wo wir die nächsten Tage schlafen würden.
»Baris sagt«, übersetzte Mourad, »dass Mutter sehr enttäuscht wäre, wenn du nicht bei ihr schlafen würdest die paar Tage.«
Wieder schnürte die Angst mir die Kehle zu. Ich wollte auf keinen Fall allein dort bleiben.
»Was wäre«, schlug Mourad vor, »wenn wir alle mitkommen? Würdest du dich dann wohler fühlen?«
Ich hörte in mich hinein.
»Ja«, sagte ich erleichtert, »das wäre wunderbar. Würdest du mitkommen, Beate?«
»Klar«, sagte sie, »wenn ich im Haus deiner Verwandten willkommen bin, dann gerne.«
Nach einigen Telefonaten war alles geregelt. Ich atmete auf. So seltsam es klingen mag, aber mit Beate an meiner Seite fühlte ich mich sicherer.
Am nächsten Tag war es so weit. Wir trafen Baris und unsere Halbschwester Fatima, kauften so viel Gemüse, Getränke und andere Lebensmittel ein, bis wir fast das Auto nicht mehr zubekamen. Für die kleineren Geschwister Abdullah und Bediha erstanden wir noch zwei kleine Häschen, außerdem hatten wir Berge von Schokolade im Gepäck. Für meine Mutter fand ich noch einen wunderschönen Blumenstock.
»Unsere Mutter liebt Pflanzen«, meinte Fatima.
Und als es wirklich nichts mehr zu tun gab, sagte ich: »Also gut. Und jetzt will ich zu meiner Mama!«
Während wir die Ausfallstraße hinaus aufs Land fuhren, zu fünft eingezwängt in unseren kleinen Mietwagen, jeder mit einer riesigen Einkaufstasche auf dem Schoß und obendrauf dem Karton mit den Häschen, klang in mir das Lied, das ich geschrieben hatte, als klar war, dass ich die Reise nun endlich antreten würde:
Losgehn, losgehn,
Heut noch sticht dein Schiff in See.
Losgehn, oh, losgehn,
am Anfang tut’s noch weh.
Denn auf jeder Reise
hängt ein Fetzen blauer Himmel rein,
keiner weiß, ob es besser wird,
aber es wird anders sein.
Das ist deine Reise
wie ein Raumschiff auf zwei Beinen …
Ja, genauso kam ich mir vor: wie ein Raumschiff, das Äonen lang unterwegs gewesen war und sich nun im Landeanflug befand, um wieder an seinem Mutterschiff anzudocken. Über uns hing tatsächlich ein ordentlich großes Stück blauer Himmel, die Stimmung im Auto war ausgelassen. Mit meinen »neuen« Geschwistern Baris und Fatima verstand ich mich auf Anhieb gut.
Baris hat einen Job bei der Türkischen Telecom und seiner Familie ein neues Haus im Dorf gebaut. Erst vor wenigen
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