Nicht ohne meine Mutter: Mein Vater entführte mich als ich ein Jahr alt war. Die Geschichte meiner Befreiung (German Edition)
bringen, Trauben, Tuborg-Bier … was immer meinem Vater gerade einfiel. Also sind auch Köfte Sarma und Pide, Salat oder Tee, auch der türkische Mokka, klein und heiß und schwarz, kein Problem für mich. Meine Mutter sagt: »Wie könnte es auch anders sein. Du bist ja schließlich meine Tochter!«
Und ich sehe überrascht in ihre Augen und erkenne, sie meint das wirklich ernst, sie ist stolz auf mich, und auch das ist ein völlig neues Gefühl für mich.
Als das Essen fertig ist, setzen wir uns alle um den runden, dreißig Zentimeter hohen Tisch aus Holz, Sofra genannt, den man aus der Spalte zwischen Wand und Schrank hervorholt. Jetzt ist auch Salihas zweiter Ehemann von der Arbeit mit der Ziegenherde zurückgekehrt, hoheitsvoll und müde; mit dem Recht dessen, der hart gearbeitet hat, lehnt er an der Wand und streckt ein Bein von sich, das andere hat er untergeschlagen.
»Gelenkig wie ein junges Mädchen«, denke ich, als sich Saliha auf den Boden setzt, die Beine unterschlägt. Meine Schwester Fatima beginnt, das Essen zu verteilen. Fatus, wie man sie zärtlich nennt, und ich mochten uns vom ersten Moment an.
»Findest du mich zu dick?«, war die erste Frage, die sie schon in Antakya an mich richtete, gleich als wir uns trafen. Meine Schwester ist einundzwanzig Jahre alt, zum zweiten Mal verheiratet und zum dritten Mal schwanger. Sie hat sich von ihrem ersten Mann getrennt, weil er sie jeden Tag schlug. Vor der Trennung gab es noch einen Familienrat, bei dem man dem Mann ins Gewissen redete, doch ohne Erfolg.
»Er war in eine andere verliebt«, erklärt Fatus, als sei damit alles gesagt.
Auch sie verlor ihre Tochter, die sie nach mir benannt hatte – wieder eine Meral, die ihrer Mutter weggenommen wurde. Bei einer Scheidung ist es üblich, dass der Vater die Kinder behält, und Fatus stand vor der schweren Entscheidung, sich entweder ihr Leben lang täglich verprügeln zu lassen oder ihre beiden Kinder, die kleine Meral und ihren jüngeren Bruder, aufzugeben.
»Meine Geschwister und ich wuchsen mit deiner steten, unsichtbaren Gegenwart auf«, erzählt sie mir, als wir zusammen auf dem Dach sitzen und Nüsse knacken. »Mutter hat viel von dir gesprochen. Und von Mourad.«
Fatus ist ständig um mich, und ich finde es schön, diese jüngere Schwester zu haben, die mir eher vorkommt, als sei sie die »Große«. Sie schaut mich an und fährt mir durchs Haar, und ich lege meinen Kopf in ihren Schoß. Da entdeckt sie beim Spielen mit meinem Haar meinen Undercut und erschrickt: Auf einer Seite, normalerweise verborgen durch die Wolke meines Langhaars, habe ich mir ein Stück weit das Haar am Ansatz wegrasiert.
»Wow«, sagt sie, »du hast unter deiner Mähne einen Haarschnitt wie ein Mann! Warum das denn?«
Dann entdeckt sie das kleine Loch in meinem Nasenflügel, wo ich früher einen Nasenring trug, und ich zeige ihr, dass ich einen Zahnstocher in meine Unterlippe fädeln kann, weil da früher auch mal ein Ring drinsteckte. Fatus lacht, sieht aber so aus, als wäre sie sich noch nicht sicher, wie sie das finden soll.
Dann legt sie sich die Hand auf ihren Bauch, das Kind strampelt wieder. Wird auch sie ihrem dritten Kind von der großen Schwester Meral erzählen, die in einer anderen Familie aufwächst?
»Dort hinten«, sagt Fatus und weist mit der Hand über die Dächer, »hinter dieser Baumgruppe, dort leben meine Kinder. Und ich darf nicht einmal hingehen und ihnen Guten Tag sagen. Mein früherer Mann sagt: ›Willst du, dass sie weinen, wenn du wieder gehst? Willst du sie unglücklich machen?‹ Er hat ihnen erzählt, dass ich davongelaufen bin und sie im Stich gelassen habe, weil ich einen anderen Mann liebe.«
Fatus schweigt. Eine Weile sagt keine von uns ein Wort.
»So ist das«, fährt meine Schwester dann fort. »So wird es immer sein. Die Männer schlagen die Frauen. Heute gibt es zwar Gesetze, die das verbieten. Die Männer können bestraft werden …«
»Und?«, frage ich sie. »Hast du deinen Mann angezeigt?«
Fatus schüttelt den Kopf. »Wegen der Familie. Wegen meinen Kindern. Darum habe ich es nicht getan.«
Am nächsten Morgen nach dem Frühstück beginnt alles ganz friedlich, und auf einmal geraten ausgerechnet Mourad und ich in einen fürchterlichen Streit. Es geht um die Frage, ob Saliha ihren Sohn damals auch deswegen hergeben musste, weil er in ihrer zweiten Ehe gestört hätte.
»Der Mann war eifersüchtig«, erklärt Saliha. »Ich habe Mourad zu lange gestillt. Wenn der Mann
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