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Nicht schwindelfrei - Roman

Nicht schwindelfrei - Roman

Titel: Nicht schwindelfrei - Roman
Autoren: Haymon Verlag
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teuer, gab sie zu bedenken.
    Stimmt, sagte er.
    Sie schwiegen und schauten einander an. Claire hatte nichts Forschendes im Blick.
    Ich möchte gern wissen, ob ich Ihnen willkommen bin, sagte er.
    Sie sind nun mal da, antwortete sie. Und ich habe nichts dagegen, gar nichts.
    Paul dachte: Eine besondere Frau. Aber eigentlich waren das alle. Auch mit Schminke liess sich das Besondere nicht ganz verdecken. Wenn Paul in der Bahnhofhalle stand und die Frauen, die von den Zügen kamen, auf sich zuströmen sah, diese, jene, dieser Gang, jenes Gesicht, jene ein wenig kühne Frisur, wunderte er sich über jede Einzelne, darüber, dass es sie gab, und zwar ausschliesslich in dieser einen Ausführung. Was hier seinen Lauf nahm, war überall das allererste Leben und das allerletzte auch.
    Wenn Paul sich die Männer genau anschaute, kam er zum selben Ergebnis. Jeden dieser Menschen gab es nur einmal. Was für ein trauriger Luxus.
    Als Paul wieder in der Strassenbahn sass und auf die drängenden Herden der Autodächer hinaussah, dachte er an Claire, ihre Hand auf dem Tisch, die er gern hätte drücken oder streicheln mögen. Die rätselhaften Dinge bereiten einen nicht auf ihre Ankunft vor, dachte er weiter, sie erscheinen wie aus einem Gewölk oder aus heiterem Himmel und sie bringen eine grosse Erleichterung mit: man braucht sie nicht zu ergründen. Das Rätselhafte lässt einen frei.
    Die Strassenbahn fuhr einer Reihe von Schaufenstern entlang, die von Schaufensterpuppen bevölkert waren. Im hellen Inneren der Läden standen wirkliche Menschen. Einer machte einen Schritt, ein anderer folgte ihm. Was den Puppen fehlte, war das Unberechenbare der wirklichen Menschen.
    Der nächste Tag war ein Putztag. Bára, die Putzfrau, kam alle zwei Wochen am Dienstagnachmittag, und das seit Jahren. Bára vertrat ein gut ausgerüstetes Reinigungsinstitut, sie umfasste aber, meinte Marion, auch schon das gesamte Personal.
    Paul war auf Báras Besuch gefasst, erschrak dann aber doch jedes Mal, wenn die Frau vor der Tür stand, hochhackig und zwinkernd mit beiden stark geschminkten Augenlidern. Ihr Parfüm erinnerte ihn erstens an ihre bisherigen Besuche und zweitens an etwas, das weiter zurück lag und gleichzeitig so nahe, dass er es nicht erkennen konnte. Pauls Gedächtnis öffnete ihm nur eine kurze Strecke, stockte und verlief sich. Ende des Erinnerns, Anfang des Vergessens: Paul kannte diese Zwischenzone. Wenn die Umstände es erlaubten, verweilte er hier, wach und gedankenlos. Er hörte den eigenen Atem.
    Nun erwartete Bará ein Kind. In den vergangenen Wochen war sie so sehr schwanger geworden, wie man überhaupt sein kann. Die kleine sehnige Frau verschwand fast hinter ihrem Bauch. Das Bücken war zuerst mühsam und dann unmöglich geworden. Paul nahm ihr die Arbeiten ab, die sie auf allen Vieren hätte ausführen müssen und die sie, ohne zu klagen, auch ausgeführt hätte. Mit einem Messer kratzte er etwas Zähes vom Boden weg, das jemand an den Schuhen herein getragen haben musste. Zwischendurch warf er kurze Blicke auf Barás Wölbung, dieses Wunder
auf zwei raschen Beinen. Einmal verzog sich ihr Gesicht, sie stöhnte und lachte. Er tut Gymnastik, erklärte sie.
    Ist es ein Bub?, fragte Paul.
    Sie nickte, als wollte sie sagen: Was denn sonst?
    Bára sprach sehr viel und sehr rasch ein ziemlich unvollständiges Deutsch. Wie um den Redefluss in Gang zu halten, wiederholte sie gewisse Silben. Sie sagte: Zum Bebeispiel. Dass Paul ihr bei der Arbeit half, war ihr am Anfang peinlich gewesen, dann aber nahm sie es gerne an, korrigierte ihn sogar da und dort mit der Überlegenheit der Fachfrau. Die Bodenleiste war der ganzen Wand entlang gründlich abzustauben. Dazu musste das Sofa weggerückt und dann an seinen Platz zurückgeschoben werden.
    In der Kaffeepause sagte Paul: Sie putzen so gut, Bára, sie verdienen ein Diplom. Er zeichnete ein Rechteck in die Luft.
    Bára lachte tief aus dem Hals.
    Wie immer beim Kaffee klagte sie über irgendwelche „Schweinehunde“. Sie nannte den Namen Kosovo und meinte damit auch die Nordafrikaner. Die Schweiz sei immer immer sauber gewesen, sagte sie, tipptopp, und jetzt auf einmal alles voll Dreck.
    Sie erhob sich, stützte dabei mit der einer Hand ihren Bauch. Als sie ihre Glieder im Gleichgewicht hatte, sagte sie mit Strenge im Blick: Herr Paul wieder
mehr okay, viel viel mehr
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