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Nicht schwindelfrei - Roman

Nicht schwindelfrei - Roman

Titel: Nicht schwindelfrei - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haymon Verlag
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okay, und schlug mit der Hand auf den Tisch. Der Schlag bedeutete: Es gilt. Und tatsächlich: Da war es schon, dieses Okay, dieses viel viel mehr Okay, mit einem Ruck hatte es sich eingerichtet.
    Als Paul die Kaffeetassen ausspülte, bestätigte sich die Veränderung. Er war gut zehn Zentimeter grösser und zudem voller geworden. Mit sich selbst angefüllt.
    Der übernächste Tag galt den Staudenfeldern, den borstigen Streuwiesen und den Hügeln, die ein Gletscher nach geduldigem Baggern und Schleifen zurückgelassen hatte. Paul meinte sich an die letzte Eiszeit zu erinnern, an den grossen Frühling vor allem, der dann folgte, seine gurgelnden Bäche und pulsierenden Rinnsale. Bald hatten Pfade sich in die Landschaft hinaus getraut, hatten ihren angemessenen Verlauf gefunden.
    Der Weg wurde steinig und steil. Er glich nun stellenweise einem Bachbett. Paul verfügte inzwischen über zwei verlässliche Beine. Der Fuss fand den flacheren Stein, den der Blick zwei Schritte vorher schon ausgesucht hatte. Blind traf er den für ihn gesichteten Standort: Der Fuss erinnerte sich. Bei diesen Dingen war ein Gedächtnis im Spiel, das nicht zurückging, sondern von irgendwo zu ihm herkam, von breitfüssigen Vorfahren vielleicht. Die hatten eines Tages, eines Jahrtausends entdeckt, dass sie auf zwei Beinen und mit abgespreizten Daumen anders zupacken konnten.
    Paul verschnaufte auf einem Grat oder Wulst und stellte fest: Er war von Kopf bis Fuss „im Freien“ – eine Wendung, die er in seine Wörtersammlung aufnehmen wollte.
    Bei seinem ersten Besuch in Claires Wohnung hatte er den Gang, den Winkel, wo man die Schuhe zurückliess, und das Wohnzimmer kennen gelernt, mit einem halben Blick dann die Küche und, als er pinkeln ging, auch das Bad. Nun, beim zweiten Besuch, kam das Schlafzimmer dazu. Claire wies hier auf zwei kleinere Werke der Künstlerin, die eigentlich längst hätte berühmt sein müssen. Eine Kuh mit weissem Fleck auf der Stirn füllte das eine Blatt bis zum Rand. Auf dem anderen stapfte eine Frau mit Kind durch den frischen Schnee. Was hinter ihr her lief, sei kein Hund, sondern ein Schwein, sagte Claire.
    Paul schaute sich im Zimmer um. Das Bett, zugedeckt mit einer türkisblauen Tagesdecke, glich einem Swimmingpool. Durchs Fenster sah man auf allerlei Grünes hinab, auf Gartenbänder, gerade breit genug für eine Birke oder einen Geräteschuppen. Paul setzte sich auf den Bettrand und wippte ein wenig auf der Matratze. Claire schaute ihm zu. In ihrem Gesicht war viel und Verschiedenes los. Er zog das Hemd aus der Hose und öffnete Knopf um Knopf, befreite die Arme, zog das Unterhemd aus. Dann stand er da, die Hose in der Hand, und blickte sich um, wusste nicht gleich, wohin damit. Er faltete sie mehrfach und legte sie dann an den Teppichrand. Sein Kleiderhäufchen sah am Ende ordentlich und bescheiden aus.
    Auch Claire fing an sich auszuziehen, nachdenklich und langsam. So machte sie das immer, vermutete er, wenn sie zu Bett ging, nur lächelte sie wohl nicht, wenn sie allein war. Ihre Unterwäsche hing nun wie eingeschrumpft auf der Lehne des Sessels, der auf der anderen Bettseite stand. Paul betrachtete die Frau, ihre hellen Glieder, von hinten jetzt, da sie das Zimmer verliess, um ins Bad zu gehen. Paul folgte ihr.
    Aus Versehen hatte er ihren Büstenhalter gelobt, der stabil gebaut und zart durchbrochen war, statt ihre Brüste. Dass er den Fehler korrigierte, half nichts. Er entschuldigte sich. Claire lachte. Sie hatte ein Gesicht, das zum Lachen wie geschaffen war. Es gab andere Menschen, die man sich lieber nicht lachend vorstellte, denn bei ihnen sah es aus, als ginge ein Riss, eine Zerstörung durch ihr Gesicht.
    Claire sass vor ihm auf dem Bett mit angezogenen Knien. Unbekleidet sah sie weniger nackt aus, als er sie sich vorgestellt hatte. Über ihren Füssen lag ein Streifen Licht. Da seid ihr ja, dachte Paul. Als wären diese Füsse in der Welt herumgelaufen und nun nach Jahren wieder zurückgekehrt. So gab es Dinge, die man zum ersten Mal sah, die man aber wiederzuerkennen glaubte.
    Die Waage ihrer Schlüsselbeine, die helleren Schlüssel vor den dunkleren Buchten am Hals. Paul schaute,
und die Welt drum herum war nur noch ein Platz, frei geräumt für zwei Schlüsselbeine. Die Waage geriet ins Schaukeln, als Claire zu lachen anfing. In ihrem Schlafzimmer stand reglos und komisch ein

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