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Nicht schwindelfrei - Roman

Nicht schwindelfrei - Roman

Titel: Nicht schwindelfrei - Roman
Autoren: Haymon Verlag
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länger als ein langes Leben.
    Es gab Menschen, stellte Paul für sich fest, die verbrachten ihre Zeit dicht bepackt mit Sorgen und Sachen. Andere promenierten und alles floss an ihnen vorbei. Die Horizonte zogen sich zurück.
    Marion schenkte Paul eine Mitgliedschaft im städtischen Kunstverein, und damit freien Zugang zur Sammlung und zu allen Ausstellungen des Museums. Die Karte, die ihm ausgehändigt wurde, öffnete ihm ein grosses Gebäude, in dem die Jahrhunderte aufbewahrt waren. Vergangenes war hier betretbar.
    Paul hatte im Museum seine Lieblingsstücke, „Eichenwald“ von Robert Zünd etwa. Ein Waldausschnitt zur Mittagszeit. Eine sonnige Spur über Farn, jungem Buschwerk und Stockausschlägen alter Strünke liess einen verwachsenen Weg vermuten. Durch die Bildmitte ging ein schräger Stamm, der oben im Gegenlicht vor einer knappen Handvoll Himmel den Bild­rand erreichte. Paul wusste, dass dieser gewöhnliche Wald nicht erfunden war, dass er 1882 genau so aus­gesehen hatte. Das Gemälde befreite die Besucher
von den triumphierenden, kühn zerklüfteten Waldstücken vieler anderer Landschaftsmaler. Ein freundlicher Wald, dachte Paul, in dem man sich am Ende aber doch wohl leichter verlor als zurechtfand.
    Zwei junge Männer, es war an einem späteren Abend, gingen im Gespräch am „Eichenwald“ vorbei. In einer unwillkürlichen Regung wies Paul die beiden auf das unbeachtete Waldwerk hin. Die Männer zögerten und dann verliessen sie den Saal.
    Zu den Werken, die Paul immer wieder besuchte, gehörte auch ein kleines Porträt von Memling, „Bildnis
eines jungen Mannes“. Dieser Mensch tröstete ihn, das war keine Übertreibung, und Paul merkte erschrocken, dass er so etwas dauerhaft Liebenswürdiges auch brauchte. Wenn er den Saal betrat, war der Mann, den er inzwischen „den anderen Bruder“ nannte, immer schon da. Nicht dass der ihn erwartet hätte, er war einfach schon da und er blieb über Nacht. Das galt natürlich auch für andere, für den älteren dunkelhaarigen Mann von Franz Hals, für das Mädchen mit dem schlafenden Hund auf dem Arm, doch lange nicht bei allen schien er gleich willkommen zu sein.
    Dem jungen Mann von Memling gelang es, mit dem ganzen Gesicht zu lächeln. Den Mund brauchte er dazu nur nebenbei. Wer so dastehen durfte wie er, mit
luftigen, fast schulterlangen Locken unter einer schwarzen Kappe, die ihm über dem Kopf in den Himmel stieg, wer sich so zeigen durfte vor dem buschigen Grün einer Baumallee, der hatte gut lächeln, dachte Paul. Er spürte, wie sich beim Betrachten des Mannes
dasselbe Lächeln im eigenen Gesicht auszubreiten begann.
    Paul verglich auf seinen Gängen die Blicke der porträtierten Personen. Wenn sie den Maler, und damit auch den Bildbetrachter, nicht direkt anschauten, blickten sie eher gedankenverloren oder überhaupt verloren an eine Stelle, wo nicht viel mehr als etwa zwei frisch bezogene Spannrahmen zu sehen waren oder ein vor Jahren angefangenes Bild mit etwas Wald und etwas Fluss und etwas Gewölk und einer unbekleideten
Frau.
    Wer Modell stand und gezwungen war, in einer Stellung lange zu verharren, wusste bald nicht mehr, was er mit sich anfangen sollte. Er geriet in eine ganz unerwartete Not, eine Verlassenheit, die er Langeweile nennen mochte.
    Der junge Mann von Memling war das Gegenbild dazu. Er schaute in eine Seele hinein, von der er anscheinend erfüllt und zugleich umgeben war. So etwas zu sagen, war wohl ziemlich waghalsig, aber so zu denken, war gut.
    Pauls Tage füllten sich mit Vorhaben und Vorkommnissen. Für das Kochen blieb weniger Zeit. Oft beschaffte er nun das Abendessen in einem thailändischen Take-away oder in der Pizzeria.
    Marion schien rascher zu leben als bisher. Sie hantierte und sprach, als sei sie verspätet – wie etwa in einem Traum, wo man mit Koffern und Taschen, die noch nicht gepackt sind, in wenigen Minuten einen Zug erreichen soll.
    Die Abende verbrachte die Familie wie es gerade kam. Paul versuchte die Musik zu mögen, die aus Toms Zimmer drängte, was ihm immer weniger gelang. In der Stube klang sie nur gedämpft wie Warenhausmusik.
    Paul griff aufs Geratewohl nach einer CD: die Suiten für Cello solo von Bach. Beim ersten Bogenstrich setzte auch die Erinnerung ein. Paul kannte das Stück und alle folgenden auch. Es gab Klänge, die ihn so berührten, als
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