Nicht schwindelfrei - Roman
nichts von ihnen. Er nahm die verschriebenen Arzneien, einmal täglich, zweimal täglich, vor dem Essen, nach dem Essen, er nahm keine doppelt und liess keine aus. Auch was der Physiotherapeut ihm auftrug, erledigte er gewissenhaft.
Paul hatte Beate nicht hereinkommen hören. Er musste geschlafen haben, und Tom hatte ihr die Tür aufgemacht. Sie näherte sich so leise, als könnte sie die Heilung eines Kranken, der nach schlaflosen Nächten endlich etwas Schlummer gefunden hat, ernsthaft gefährden. Sie schob einen Sessel dicht an seinen heran. Als sie flüsternd neben ihm sass, wusste Paul vorübergehend nicht mehr, wer sie war. Natürlich kannte er sie, Beate, kein Zweifel, doch fiel ihm nicht mehr ein, wie sie in sein Leben, und er ja notwendigerweise auch in ihres, gekommen war. Etwas Schwäger-Schwiegerisches mochte da im Spiel sein. Oder war sie eine Kusine?
Beate, nun flüsterte auch er, schön, dass du da
bist.
Sie küsste ihn innig und lang. Er spürte ihre Tränen auf seinem Gesicht.
Schön, schön, sagte er, ohne zu wissen, was daran schön war.
Die Erinnerung ist vielleicht nur ein Sonderfall des Vergessens. So dachte Paul, als Beate ihn verlassen hatte. In ihrem Sessel sass jetzt der Bub. Er erzählte aus der Schule, Episoden, von denen er meinte, sie müssten den Vater interessieren. Er zappelte dabei mit den Beinen und stiess Paul ans Schienbein.
Wenn Paul wieder allein und oft auch erschöpft war, konnte er sehr nachdenklich werden. Konzentration auf das Anfängliche, sagte er dann zu sich selbst. Stehen, Gehen, sagte er mehrmals.
Die Unterscheidung von Standbein und Schrittbein war der Schlüssel zum aufrechten Gang, stellte er fest. Mit welchem Bein man anfing, dem rechten, dem linken, blieb dem Schreitenden überlassen. Wichtig war, dass man dem Standbein das ganze Gewicht übertrug, während man mit dem Schrittbein vorwärts pendelte, Boden suchte und fand. Das Schrittbein wurde zum Standbein, übernahm vorübergehend seinerseits das ganze Körpergewicht. Damit wurde das zweite Bein frei, es überholte leicht angehoben und mit Schwung das erste, das so lange stehen blieb, bis das zweite Fuss gefasst hatte. Anfänger fürchteten diesen Ãbergang. Gelang jedoch das baumelnde Links-und-Rechts, so entstand manchmal ein inneres Jauchzen, das sich nur mit dem Gefühl beim Stehen vergleichen liess. Voraussetzung war, dass man zu vergessen wagte, was alles dazugehört. Dann erst kam Freude auf, lief Freude einem über den ganzen Leib. Ein Lachen, Lachen hüpfte vom Zwerchfell empor.
Man konnte gehen bis ans Ende der Welt, sagte man sich und staunte, konnte gehen bis an die Stelle, wo sie unverhofft nicht endete, wo der Weg, den man unter den Schuhen hatte, bis zu fernen Bergen führte, weil die Erde, wie man bisher nur vom Hörensagen wusste, tatsächlich rund war. Gehen also, immer weiter, unter einem Himmel, der einem als Ãffnung sicher geworden war, manchmal fürchterlich in seinem Blau, das wechselnde Wolken freundlich erscheinen liessen.
An einem Morgen erwachte Paul mit nassen Wangen.
Um die Augen spürte er die kühlere Luft. Hatte er im Traum geweint? Ging es traurig zu in seinen Träumen? Paul wunderte sich, dass so etwas vorkam.
P auls Erinnerung war meist nicht verdunkelt oder erloschen, sondern bloss ein wenig defekt. Einen ehemaligen Bürokollegen hatte er Alban genannt und musste sich von ihm sagen lassen, dass er Stefan hiess, Steff Althaus. Der Name Alban gehörte woanders hin, in eine Ferne, aus der er unversehens hergeschwemmt worden war.
Steff kam regelmässig vorbei, um nach Paul zu sehen. In dunkelblauem Kittel über fein gestreiftem Hemd mit Fliege, eine Aufmachung, die nicht zu ihm passte. Und das war es, was ihn sympathisch machte, dass es in seinem Leben dieses Unpassende gab.
Du siehst ja besser aus als je zuvor, Paul, rief Steff. Dann lachte er.
Und du, du siehst weit schlechter aus, ziemlich abÂgenützt. Paul lachte nicht. Er war aber so freundlich zu fragen: Nun, wie läuftâs denn bei euch im Büro?
Wie am Schnürchen, antwortete Steff. Ein Satellit, gross wie ein Reisebus, ist eben daran, auf die Erde zuzustürzen. Eines der verglühenden Trümmerteile könnte durchaus einen Schweizer oder eine Schweizerin treffen. Zack. Im Moment machen sich mehrere Länder auf die Trümmer gefasst. In Italien hat man die Toskana dafür
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