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Nicht schwindelfrei - Roman

Nicht schwindelfrei - Roman

Titel: Nicht schwindelfrei - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haymon Verlag
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Lamms, das Hecheln des Wolfs. Sie wirkte mit im Amselgesang, sie machte Tauschgeschäfte mit den Pflanzen. Auch wenn einer längst vergessen hat, was sein Grossvater ihm einst erzählte, so atmet er doch eine Prise jenes Stoffes ein, der bei seinem Erzählen durch den Grossvater strömte. Man hat also allen Grund, sich in der Luft, die einen umgibt, zu Hause zu fühlen.
    Das Wort Grossvater war verbunden mit einem stoppeligen Kinn, das mindestens doppelt, jedenfalls mehrfach und wohl schwierig zu rasieren war. Der Grossvater, ein langsamer Mann, hörte seine Frau durch Türen und Gänge hasten und husten. Paul stellte sich vor, wie sie am Rand der Welt ihres Mannes herum lief, ein Schattenriss am Horizont, der mit dem ganzen Körper grimmig nickend ausschritt wie im Gegenwind. Sie merkte nicht, dass der langsame Mann ihr längst verleidet war. Sie merkte überhaupt nicht viel, denn dafür fehlte ihr die Zeit. Solche Bilder liess Pauls Gedächtnis entstehen und gab sie als Erinnerungen aus. Mein Gedächtnis übertreibt, dachte Paul.
    Die Nachtpflegerin hiess Rahel oder Rebekka. Im Dunkeln hatte sie neben seinem Bett gestanden, plötzlich, manchmal. Unter dem weissen Mantel trug sie, das wusste Paul dann beim zweiten Mal, nur ihre gute Haut. Sie hob einen Zipfel der Decke und streckte ihre Beine seinen Beinen entlang, leise, um den schnarchenden Zimmernachbarn nicht zu wecken. Sie brauche etwas Wärme, flüsterte sie.
    Der Kopfteil des Bettes war angehoben. Sie sahen durch das grosse Fenster auf die nur noch spärlich beleuchtete Stadt hinab, auf die sich kreuzenden Lichterketten der Strassen. In einer Biegung blendeten die Lampen eines Wagens auf. Paul wünschte dem späten Fahrer alles – er wusste nicht was. Das Wünschen machte ihn schläfrig. Rebekka tastete an seinem Körper herum.
    Als Paul erwachte, war sie nicht mehr da. Der Lichtdunst der Stadt hielt sich an der Zimmerdecke bis zum lauten Morgengruss, der mit einem klirrenden Servierwagen ins Zimmer kam.
    Also ein Spitalaufenthalt. Nicht unbedingt. Die Nachtpflegerin jedenfalls, die konnte Paul sich ebenso gut erfunden haben.
    Einmal kam Rebekka erst gegen Morgen. Sie seufzte und schlief sofort ein. Als ihr Piepser piepste, erwachten beide aus tiefem Schlaf. Paul wurde nicht sofort oder nicht vollständig wach. Er wusste sehr wohl,
wer eben sein Bett verliess, er spürte einen kurzen kühlen Hauch, hatte aber in jenem Moment noch keine Ahnung, wer der andere war, der im Bett zurückblieb. Die Schwere des Körpers, der einzelnen Glieder gehörte mehr zum Bett als zu einer bestimmten Person. Von einer Matratze gestützt, lag da ein Unbestimmter, ein Atmender, einer mit rasch wachsender Angst. Am dicksten Ende der Angst erblickte Paul sich selbst, aufrecht, als wartete er da schon eine ganze Weile.
    Dieser Paul hatte ausgesehen wie auf einem Foto in einem lange abgelaufenen Pass, wie auf einem Bild, das ihn zwar zeigte, ihm aber nie ähnlich gewesen war. Immerhin: Die Zollbeamten erkannten ihn. Der alte Reisepass befand sich wohl immer noch in der Schublade, die Strandgut enthielt, vom Leben angespülte, unnütz gewordene Dinge. Jedes Mal, wenn Paul die Schublade herauszog, um sie endlich frei zu räumen, berührte ihn die kleine Trostlosigkeit der Ersatzpatrone des verlorenen Füllers, der Mundharmonika mit der Lücke, durch die der Atemwind röchelte statt zu singen, des glänzenden flachen Steins, grün, braun und dunkelrot bemalt von einem Kind, des Geräts zum Drehen von Zigaretten. Paul schloss die Schublade wieder. Dabei entstand die Überzeugung, dass es ohne diesen Ort nicht ging. Er war ein Lebensorgan.
    â€žStrandgut“ gehörte zu den Wörtern, denen er dankbar war, dass es sie gab.
    Wenn von Krankheit gesprochen wurde, war das wohl nicht an den Haaren herbei gezogen. Es hatte Stimmen gegeben, halblaute, seines Bruders und seiner Frau, die er im Liegen gehört haben musste. Theo hatte eine Frage gestellt und Marion hatte Auskunft gegeben. Paul erinnerte sich genau: Marion sagte, sie sei daran, für einen Männerchor eine Patagonienreise zu organisieren. Als Abschluss war der Besuch eines sauberen und familiären Bordells in Buenos Aires vorgesehen. Theo fügte lachend etwas bei. Auch Marion lachte. Dann schwiegen sie.
    Marion sagte: Paul hört uns. Der versteht jedes Wort. Doch, sagte sie, das spür ich.
    Paul wollte nicken, wollte sich

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