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Nicht schwindelfrei - Roman

Nicht schwindelfrei - Roman

Titel: Nicht schwindelfrei - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haymon Verlag
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der ihm derart die Glieder und den Magen verdrehte, dass er drauf und dran war, den Bettel hinzuwerfen oder die Flinte ins Korn. Doch was wäre er heute, ohne das, was hier Bettel und Flinte hiess.
    Erst nach und nach entdeckte er das unbewohnte, nur von Wolken flüchtig besiedelte Feld über den Dächern, über den Bäumen.
    Ja, so musste es gewesen sein.
    Stehen, das war etwas, wenn es gelang. Auf zwei
Füssen und alles Übrige obendrauf. Zwei Arme, zwei Hände und die Frage, was er damit anfangen sollte. Vorläufig gar nichts. Er schaute in die Weite. Sie brauchte gar nicht sehr weit zu sein, diese Weite. Er stand und schaute, und das war’s. Er stand wie ein junger Baum, eine Esche zum Beispiel. Weit weniger verwurzelt allerdings. Er musste standfest bleiben, die Füsse dabei aber frei behalten für kommende Schritte. Das kann nur ein tollkühner, ein unverfrorener Mensch gewesen sein, der den aufrechten Gang erfunden hat, dachte Paul.
    Marion klatschte dann und wann Applaus. Das Geräusch, das sie erzeugte, erschreckte ihn. Sie meinte es gut, das hielt er sich ständig vor Augen, sie meinte es sehr gut. Marion hätte ihr Hemd vom Leib gegeben, ihr einziges, letztes, das zwar zu eng war für ihn, aber tauglich als Liebesbeweis. Er hätte ihr seinerseits ohne Weiteres seine Hose geschenkt, seine einzige, letzte. Nun sah er sie vor sich, die beiden Beschenkten, nebeneinander, Mann und Frau, wie die ersten Menschen, sie ohne Hemd, er ohne Hose.
    Bald folgte das Stehen auf einem Bein. Was sich als nützlich erwies, wenn man in ein Beinkleid stieg, mit dem unbelasteten Fuss in eine Röhre vordrang, die stets länger war, als man annahm. Versuchte man auf diesem Fuss zu stehen, bevor er sich wieder vollständig im Freien befand, kam man ins Stolpern. Eine Hauptschwierigkeit lag darin, dass man auf dem anderen Fuss balancierend die Hose hochziehen musste. Nun, Paul hatte diese Dinge rasch im Griff. Es machte ihm Vergnügen, sich übungshalber mitten am Tag ein paar Mal aus- und anzuziehen.
    Schon eine Woche später, es war an einem Donnerstag, wandte er sich dem Gehen zu. Um Marion eine Freude zu machen.
    Paul freute sich. Das Wort „unbändig“ war hier am Platz.
    Das alles müsse er sich jetzt allmählich zurückerobern, sagte Theo. Marion sagte: in Erinnerung rufen. Sie sah dabei nachdenklich aus, als holte sie bei sich selbst etwas ins Gedächtnis zurück, das halb schon unterwegs, halb noch im Vergessenen geborgen war.
    Das Stehen wie das Gehen erfüllen einen bis zum Rand, stellte Paul fest. Es waren die lohnendsten Tätigkeiten. Das Greifen kam dazu, das Greifen mit zwei freien Händen und das viele, was man sonst mit Händen noch tun kann.
    Dann das Schauen, der Himmel, der Horizont, das ganze Unvermutete. Geriet ein Baum in den Blick und ging man auf ihn zu, erhielt der Horizont eine wachsende Beule oder ein Horn.
    Dann die vielen Dinge. Besonders aber die Luft um die vielen Dinge herum. Man vergass sie leicht, weil sie unsichtbar war, alles in allem aber doch das Schönste, was man hier antraf, hier und irgendwo. Die Luft, der Luftzug. Der Wind über dem aufgeregten Gras. Der Wind und die Bäume. Zweige verschoben sich übereinander, kleinere wippten. Auch wogende Bewegungen wie von Seegras kamen vor. Selbst in einer Flaute zwinkerten einzelne Blätter. Manchmal glaubte man in diesem Flimmern und Fluten Wiederkehrendes zu erkennen, eine Art Echo, das sich dann aber verwischte.
    Pauls Arzt, Condrau, war braun gebrannt und fit. Bei der ersten Konsultation gab er gründlich Auskunft über seine Person und seine Karriere. Der Patient sollte wissen, wem er sich anvertraute. Ein Forschungs-Stipendium hatte Condrau erlaubt, sich an einer amerikanischen Universität fortzubilden. Ihr Name klang so schön, dass Paul ihn behielt: Loma Lind University, California. Eine andere Uni hatte er nur einmal genannt und mit weniger Nachdruck. Europa sei ein weisser Fleck auf der Karte seines Forschungsgebiets.
    Die ersten Darlegungen hatten Paul konfus ge­macht. Über seine Biografie wisse er offensichtlich nicht viel mehr, als auf dem städtischen Einwohner­amt unter seinem Namen zu finden sei, sagte Condrau aus heiterem Himmel. Als Paul schwieg, ging der Arzt zu Ermutigungen über. Sein Zuspruch bekam dem Patienten besonders schlecht. Die übrigen Ärzte, beigezogen nach Bedarf, ertrug er leidlich, erwartete aber

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