Nicht so laut vor Jericho
zum Schluß Ihr eigenes, sorgenvolles Gesicht auf dem Bildschirm, und Ihrer sind die nachdenklichen Worte:
»Es scheint keinen Ausweg zu geben. Solange beide Seiten es hartnäckig ablehnen, sich gemeinsam an den Verhandlungstisch zu setzen, bleibt der Nahe Osten ein Pulverfaß, dessen Explosion die Welt in Brand setzen würde…«
Sollte ein Anruf oder eine Zuschrift Sie darauf hinweisen, daß es sich bei den von Ihnen erwähnten »beiden Seiten« offenbar um einen Irrtum handelt; daß die eine Seite, nämlich die israelische, sehr wohl bereit ist, sich an den Verhandlungstisch zu setzen; daß sie diese Bereitschaft nach der siegreichen Beendigung des Sechstagekriegs proklamiert hat und sie bis heute ebenso anhaltend wie vergeblich proklamiert – dann antworten Sie dem betreffenden Rufer oder Schreiber, daß für derlei tendenziöse Schattierungen in einer objektiven Reportage kein Platz ist.
Die Russen kommen
Israel ist das einzige Land der Welt, in dem die armen Einwanderer eine solide Mehrheit bilden. Deshalb halten wir unsere Arme weit offen zum Empfang unserer Brüder, die aus der Zerstreuung zu uns kommen. Und das ist sehr anstrengend: die Arme weit offen zu halten…
»Lassen Sie mich der erste sein, der Ihnen die gute Nachricht bringt. Sie kommt direkt aus Regierungskreisen. Eine Sensation.«
»Einwanderung aus Rußland?«
»Ja! Im Rahmen der Zusammenführung der getrennten Familien dürfen ab sofort 200 Personen monatlich nach Israel kommen. Man erwartet den ersten Transport bereits für nächsten Donnerstag.«
»Endlich! Endlich! Ich möchte Sie am liebsten umarmen.«
»Nur zu. Gott segne Sie. Diese Sache lag Ihnen ja schon immer am Herzen.«
»Das kann man wohl sagen. Keine Petition, die ich nicht unterschrieben hätte, keine Versammlung, in der ich nicht aufgestanden wäre, um die Heimkehr unserer in Rußland schmachtenden Brüder zu fordern.«
»Sie sind russischer Herkunft?«
»Nein. Ich bin ein Sympathisierender. Was für ein großartiges Material sind die doch! Groß, stark, gesund, essen gern, trinken gern, leben gern.«
»Ja, es sind wunderbare Menschen.«
»Man muß sie nur tanzen sehen. Oder singen hören. Otschi tschornaja, otschi krasnaja. Und was die Hauptsache ist: jede Familie hat mindestens drei bis vier Kinder.«
»Unsere Zukunft! Ein fleißiger, disziplinierter Menschenschlag. Da sie unter kommunistischem Regime aufgewachsen sind, haben sie gelernt, in aller Herrgottsfrühe aufzustehen und hart zu arbeiten. Es ist eine neue Pioniergeneration. Die Auswirkungen dieses ungeheuerlichen Ereignisses auf die Entwicklung unseres Landes lassen sich noch gar nicht absehen.«
»Drei Millionen neue Menschen!«
»Und was für Menschen!«
»Grüßen Sie sie von mir!«
»Nun, das können Sie persönlich tun.«
»Leider. Mein Wagen ist in Reparatur.«
»Kein Wagen nötig. Sie kommen her.«
»Wer kommt her?«
»Die aus Rußland.«
»Zu wem?«
»Zu Ihnen. Natürlich nicht alle drei Millionen. Nur eine Familie.«
»Ich habe keine Familie in Rußland.«
»So ist es nicht gemeint. Jeder israelische Haushalt wird eine russische Familie aufnehmen. Ich bin gekommen, um Sie davon in Kenntnis zu setzen.«
»Ist das eine gesetzliche Maßnahme?«
»Vorläufig nicht. Wir versuchen es zuerst auf freiwilliger Basis.«
»Also was heißt dann: ›in Kenntnis setzen‹? Da müßten Sie mich doch zuerst fragen.«
»Nach Ihrem Freudenausbruch habe ich das eigentlich für überflüssig gehalten.«
»Freudenausbruch, Freudenausbruch… Natürlich freue ich mich. Das ist ja ganz klar. Mich brauchen Sie nicht zu belehren, worüber ich mich freuen soll. Mein Haus steht dem mächtigen Strom der Sowjetjudenschaft immer offen. Allerdings…«
»Allerdings?«
»Dworahs Musik.«
»Ich verstehe nicht…«
»Das werde ich Ihnen sofort erklären. Der einzige freie Raum in unserem Haus ist das Gastzimmer. Und im Gastzimmer steht der Flügel. Und meine Tochter Dworah nimmt dort dreimal in der Woche Privatstunden bei Frau Pressburger. Frau Pressburger unterrichtet auch am Konservatorium. Wir mußten jahrelang warten, ehe sie sich bereit erklärte, Dworah als Schülerin zu akzeptieren. Ich kann das alles jetzt nicht so einfach über den Haufen werfen.«
»Vielleicht läßt sich der Flügel anderswo unterbringen?«
»Daran haben wir schon gedacht. Aber wo? Mein Arbeitszimmer ist zu klein, das Speisezimmer ist zu voll, und überhaupt ist es keine Kleinigkeit, einen Konzertflügel zu
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