Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)
eine Runde Schach oder Mühle spielen.«
Darauf folgte dann wiederum ein Nein meinerseits. Ich habe eine Weile mit meiner Mutter Schach gespielt, aber keine von uns hat es zu größerer Virtuosität gebracht. Alle anderen Brettspiele wurden zu zweit schnell langweilig und die meisten Kartenspiele brauchen mehr als zwei Spieler. Aber spazieren gehen und Schach spielen waren nun einmal die beiden Freizeitaktivitäten, die bei uns außer Lesen zur Auswahl standen. Meine Mutter hat noch einige Male versucht, mich zum Tischtennisspiel mit ihr zu animieren. Aber irgendwie kam bei mir kein Ehrgeiz auf.
Ein Fahrrad hat sie sich erst leisten können, als ich schon in der Schule war. Allerdings ist sie dann trotzdem oft lieber gelaufen. Ich erinnere mich auch nur an wenige Radtouren, die wir gemeinsam gemacht haben. Einmal sind wir nach der Wende über den Todesstreifen hinaus durch den Spandauer Forst bis zu den nächsten Dörfern gefahren. Sonst gingen wir manchmal an die Badestelle in einer Ausbuchtung der Havel, im Spandauer Volksmund die »Bürgerablage« genannt, an der die Schiffe vorbeifuhren. Ein kleiner matschiger Sandstreifen, auf dem die Vorstadtfamilien grillten, und ein mit Bojen abgestecktes Badeareal. Mir waren die warmen roten Steine am Beckenrand des berüchtigten Prinzenbads in Kreuzberg lieber. Dort hatte ich mit meinen Freundinnen Zitronenlimonade getrunken und meinen ersten Milchzahn verloren. Das Wasser im Prinzenbad war blauer, die Steine waren wärmer als der Sand an der Havel. Aber ob Havel oder Freibad, meine Mutter ging ohnehin nie mit ins Wasser. »Zu kalt«, sagte sie. Kurz: Selbst wenn ich etwas mit ihr unternahm, war es ziemlich langweilig.
In einem meiner ersten Winter war der Grunewaldsee zugefroren. Ich reichte meiner Mutter gerade bis zur Hüfte. An diesem Tag war sie übermütig und fühlte sich an ihre Kindheit erinnert. Sie zeigte mir, wie man auf der Eisfläche mit Anlauf schlittern kann. Ich habe es nicht hingekriegt und schließlich wollte ich nicht mehr rutschen. Ich habe mich vor den anderen Leuten geniert. Vielleicht war es auch der Ton meiner Mutter, die plötzlich etwas so viel besser konnte als ich und mir gönnerhaft beibringen wollte. Und Schlittschuh bin ich erst einige Jahre später zum ersten Mal gelaufen. Mit einer Klassenkameradin, deren Eltern mir sowohl den Eintritt für die Eisbahn als auch die Leihgebühr für die Schlittschuhe bezahlt haben. Meine Freundin hat mir gezeigt, wie man aufs Eis kommt, wie man vorwärts und rückwärts laufen kann. Alle anderen hatten das als kleine Kinder mit ihren Eltern wie Fahrradfahren gelernt. Ich habe mich doppelt geschämt, weil ich es nicht konnte, und wollte es dann auch nicht mehr probieren.
So ging es mir mit vielen kleinen Dingen, bei denen man im Mittelpunkt steht oder sich beobachtet fühlt. Hausaufgaben in der Schule vorlesen zum Beispiel, Freunden etwas vorsingen in diesen Spielen, in denen jeder eine Aufgabe erfüllen muss – und wie benimmt man sich in einer Schülerdisko? Schulsport – Brennball und Bundesjugendspiele –, davon handelten meine Albträume. Es gab so vieles, was neu für mich war, was ich hätte falsch machen können. Wenn es möglich war, habe ich mich zurückgezogen. Ich konnte mich sehr hartnäckig verweigern.
»Ich wollte immer, dass du alles, was ich dir nicht geben kann, wenigstens bei anderen mitbekommst. Auch wenn es mir innerlich häufig wehtat«, hat meine Mutter in einem ihrer Briefe aufgeschrieben. Sie hat mich oft gehen lassen, sie selbst hat dabei am meisten verpasst. Aber auch für mich hatte es nicht immer nur angenehme Folgen.
Ich war zweimal mit meiner Grundschulklasse auf Klassenfahrt in Schleswig-Holstein, viermal auf Jugendfreizeiten der Kirche, einmal mit befreundeten Familien auf Osterfahrt. Und ich war mit der Familie meiner Sandkasten-Freunde unterwegs, als gehörte ich dazu, im Urlaub in Schweden, auf Familienfeiern oder Sonntagsausflügen. Der Vater einer Freundin hat mir sogar einmal eine Skijacke und Skiunterwäsche gekauft, damit ich mit seiner Tochter und einer Jugendgruppe auf meine erste und einzige Skifreizeit fahren konnte. Sie wussten alle, dass meine Mutter nichts bezahlen konnte. Bei ihnen habe ich auch das Sonntagsessen nach dem Gottesdienst kennengelernt. Plötzlich waren Sonntage nicht nur Tage, an denen nichts passierte und niemand Zeit hatte. Wir machten gemeinsame Spielfilmnachmittage, Ausflüge in den Tiergarten und aßen anschließend
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