Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)
Methoden entwickelt, um dabei zu sein, ohne wirklich teilzunehmen. Man kann einen Abend im Restaurant auch mit einem Glas Tee verbringen. Allerdings muss man sehr bestimmt darauf bestehen, dass es genau das ist, was man will. Zeigt man auch nur eine Sekunde lang Unsicherheit, wird man sofort in Mitleid ertränkt und ist entlarvt.
Vielleicht habe ich mit der Zeit das Gefühl dafür verloren, wann man getrost Angebote annehmen kann und wann man sie besser ablehnen sollte. Wenn man sonst keine Möglichkeit hat, bestimmte Wünsche zu verwirklichen, ist man manchmal vielleicht zu schnell bereit, etwas anzunehmen. Aber ab und zu habe ich meinen Stolz bewahrt, um mir selbst zu beweisen, dass ich nicht auf andere angewiesen bin oder den Willen aufbringen kann, auf etwas zu verzichten. Sonst begibt man sich schnell in Abhängigkeiten. Wenn sie nicht materiell werden, sind sie emotional. Nicht alle, die ein Angebot aussprechen, meinen es auch so.
Meine Mutter hat diesen Moment, in dem man das innere Gleichgewicht verliert, einmal sehr treffend beschrieben: »Die Mutter einer Schulkameradin kaufte auch mir ein Eis, denn ich hatte kein Taschengeld – und ich nahm es und – schämte mich! Dabei hätte ich es als Mutter ebenso gemacht. Es ist diese Scham, die sich einstellt, wenn man Objekt von Mitleid, oder möge man es Wohlmeinen nennen, wird.« Dieses Gefühl macht mürbe, aber man merkt es viel zu spät. Man fühlt sich immer unzureichend, überdankbar und außerstande, auch nur das Kleinste zurückzugeben.
Noch etwas Wesentliches war bei uns zu Hause Mangelware: Leichtigkeit. Von Anfang an lag eine Schwere in der Luft, die Übermut lähmte und Schüchternheit verstärkte. Da war die Familie meiner Sandkastenfreunde, deren Mutter sich laut freute und scherzhaft mit ihrem Mann zankte. Meine Mutter blieb eigentlich immer ruhig, machte oft ein ernstes Gesicht und lächelte. Zu Hause konnte sie gelöst und zufrieden sein, aber an Überschwänglichkeit, an ausgelassenes Rumtoben oder Albernheiten, an kleine Streitereien, die zum Spaß gehörten und herausfordern sollten, kann ich mich nicht erinnern. Wenn ich sie fragte, sagte meine Mutter: »Ich freue mich doch. Das sieht man nur nicht so wie bei den anderen.« Ich fragte damals nicht weiter. Aber in meiner Mutter hat die Frage nach der Fröhlichkeit einen Stachel hinterlassen. Sie fühlte sich schuldig, weil sie zu der Zeit nicht glücklich war. Dazu kam ein Widerwille, in bestimmten Situationen Glück und Freude signalisieren zu müssen, weil man sonst zur Spaßbremse wird. Und ich habe das unbewusst kopiert.
Ich fühle mich da am wohlsten und entspanntesten, wo es ruhig und leise ist, wie zu Hause, wo wir nur zu zweit waren. Der Druck, in Gesellschaft zur Fröhlichkeit beizutragen, kann zum Korsett werden, das jede Fähigkeit erstickt, sich locker und offen zu bewegen. Ich schäme mich dann für jeden Schweißfleck, mein T-Shirt sitzt nicht mehr, ich pendle zwischen Toilette und Küche, wo sich die aufhalten, die pausieren oder lieber reden als tanzen.
Hat mir etwas Wichtiges gefehlt? Meine Mutter hat mich nie gehindert, immer motiviert, obwohl ich sie sogar weggestoßen habe. Sie hatte nicht die Umgangsformen, die ich bei anderen sah, sie ist nicht dort aufgetreten, wo man sich zeigt und miteinander konkurriert. Und damit traute ich ihr auch nichts mehr zu. Was wusste meine Mutter schon von der Schule, was wusste sie schon davon, was und wer cool war in der Welt da draußen?
Die anderen sind mit ihren Eltern über Grenzen gefahren, haben die Schweiz, Frankreich gesehen oder eine Oma in Nordrhein-Westfalen gehabt. Ich kannte nur Berlin. Ich konnte mir unter dem Schwarzwald nichts vorstellen. Mein Alltag kam mir unbedeutend vor, ich wollte auch den, den alle anderen hatten.
KAPITEL VIER
»Iss doch einen Apfel!«
Erklärt, woher meine tiefe Abneigung gegen Haferflocken kommt, warum leere Keksdosen Begehrlichkeiten wecken und mein erster Burger eine Geschichte für sich ist.
»Arm sein ist, sich durch dieses überfüllige Warenangebot hindurchschwitzen zu müssen, wenn man einfach nur etwas einkaufen gehen will.« Mama
Meine Mutter mag keine Trinkpäckchen. Nicht nur weil sie umweltschädlich und teuer, zudem mit nur wenig und außerdem noch ungesundem Inhalt versehen sind. Meine Mutter mag keine Trinkpäckchen, weil Trinkpäckchen arme Mütter demütigen können. Wenn eine befreundete Mutter die kleinen Dinger aus ihrer Tasche holte, um sie ihren Kindern und
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