nichts als die wahrheit
Anne«, flüsterte eine körperlose Stimme. »Berlin ist nicht die Rhön.«
Dann wurde die Verbindung unterbrochen. Für einen Moment war sie überrascht, ach was: verängstigt. Und dann packte sie die Wut. Sollte sie aus ihrem Mandat gemobbt werden, bevor sie es überhaupt angetreten hatte? Laß dir nichts gefallen, dachte sie und ballte die Fäuste. Laß dich nicht einschüchtern. Nimm, was dir zusteht. Kämpfe. Oder, fügte eine innere Stimme spöttisch hinzu, hast du das mittlerweile verlernt?
Als sie auf die Uhr guckte, war es bereits nach zwei. Sie hatte noch nichts gegessen heute – aber dazu war es jetzt zu spät. Sie mußte ins Plenum. Das erste Mal nicht auf die Besuchertribüne, sondern aufs Parkett. Als freigewählte, unabhängige Volksvertreterin, der es egal sein konnte, was die Partei von ihr hielt – zumindestens für die nächsten drei Jahre.
»Nach mir die Sintflut«, sagte sie laut und erhob sich.
Sie ärgerte sich über die Unsicherheit, die man, glaubte sie fest, ihr ansehen mußte, als sie am Eingang zum Reichstag ihren Abgeordnetenausweis vorzeigte. Der Saaldiener im Frack, der sie in der Lobby empfing, war jung, die dunklen Haare glänzten gegelt, und mit Verwunderung registrierte sie den goldenen Ring in seinem Ohr.
»Sagen Sie mir Ihren Namen, und ab morgen werde ich Sie jeden Tag persönlich begrüßen!« sagte er und sah ihr konzentriert ins Gesicht.
»Anne Burau.« Sie mußte lächeln. »Und das soll ich Ihnen glauben?«
Der junge Mann hielt ihr die Hand hin. »Aber ja. Ich bin Walter – wenn mal was ist …«
Vor der Tür zum Plenum stand eine Person, die ihr bekannt vorkam. Die hochgewachsene, dunkelhaarige Frau im eisblauen Blazer guckte durch die Glastür und tippte sich nervös mit dem Füllfederhalter gegen die großen weißen Vorderzähne. Sie hielt ihre Handtasche unter dem Arm, als ob es eine Kalaschnikoff wäre. Es war die Frau, mit der sie Peter Zettel hatte zusammenstehen sehen, damals, bei der Eröffnung des Reichstags. Die Frau hatte sich die Brille hoch und in die dichte dunkle Haarmähne geschoben. Anne beschloß, sie herzlich unsympathisch zu finden.
Die Fraktion war bereits versammelt, als sie den Plenarsaal betrat, über dem sich die Kuppel erhob, die in Windeseile zum neuen Wahrzeichen Berlins geworden war. Ihre Fraktion saß von hinten gesehen links von der Mitte des Halbrunds, in einer Art Keil, so daß vorn zwei Personen nebeneinander sitzen konnten und oben sechs. Unschlüssig blieb sie stehen. Zwei ihrer Kolleginnen telefonierten, einer las Zeitung, ein anderer Akten, zwei drehten sich zu ihr um, tuschelten, irgendwie vorwurfsvoll, wie ihr schien, und drehten sich wieder weg. Wie Kater, die ihren Rivalen die kalte Schulter zeigten, um Überlegenheit zu demonstrieren, dachte sie. Ein Saaldiener im schwarzen Frack kreuzte gemessenen Schritts den Bereich zwischen den vordersten Abgeordnetensesseln und dem Rednerpult und stellte ein Glas Wasser auf das Pult. Sie fühlte sich etwas verloren und ziemlich unerwünscht, bis Emre Özbay sich umdrehte und sie neben sich winkte.
»Das alles hat weniger mit dir zu tun, als du glaubst«, sagte er, als sie ihm von der tränenreichen Szene vor Bunges Büro erzählte – und von dem Heldenschrein. »Der Kollege Bunge war bei seinen Mitarbeitern sehr beliebt – und du kennst ja Sekretärinnen: Entweder geben sie alles, oder sie sabotieren dich, wo sie nur können.«
Anne erinnerte sich an diesen stillen Boykott aus ihrer Zeit in Kiel.
»Außerdem hatte Bunge seine feste Rolle und war deshalb für viele keine Konkurrenz mehr. Deshalb kann man ihm auch völlig authentisch nachtrauern.« Emre mußte ihrem Gesicht angesehen haben, daß sie soviel Zynismus nicht mehr gewohnt war, jedenfalls lachte er und legte ihr wieder die Hand auf den Arm.
»Und was man von dir erwarten kann, weiß keiner. Alle fürchten, du könntest deine schönen langen Finger ausgerechnet nach ihrem Steckenpferd ausstrecken.« Er grinste spöttisch. »Das fürchten vor allem die Frauen.«
Dann stand er plötzlich auf – wie alle anderen, was Anne zu spät bemerkte. Sie stand erst, als man sich um sie herum bereits wieder zu setzen begann.
»Du weißt doch: Wir stehen immer auf, wenn das Präsidium hereinkommt«, zischte Emre ihr zu. »Alte Sitte aus alten Zeiten.«
Hastig setzte auch sie sich wieder.
»Das ist so ziemlich das Maximum an guten Manieren, das du hier erwarten kannst.«
Sie nickte abwesend. Auf der Pressetribüne hatte sie
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