Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
nichts als die wahrheit

nichts als die wahrheit

Titel: nichts als die wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
Vom Netzwerk:
Schultern.
    »Womit? Und wie?«
    Er ließ sie wieder fallen. »Rufschädigende Maßnahmen wie das Gerücht, er sei ein potentieller Kinderschänder.« Karen schüttelte den Kopf. Er hob die Hände und sagte: »Hat es alles schon gegeben.«
    »Und wie sicher sind Sie sich Ihrer Theorie?«
    »Gar nicht.« Wenzel stand auf, ging zum Fenster und sah hinaus. »Es ist nur eine Ahnung.« Karen sah ihm mit zusammengezogenen Augenbrauen hinterher. Die Worte »Ahnung« oder »Zweifel« hatte der Kollege gewöhnlich nicht in seinem Repertoire.
    »Glauben Sie mir, Karen«, sagte er schließlich leise. Das machte sie sekundenlang sprachlos.
    Sie hatte Manfred Wenzel noch nie in einem Zustand erlebt, der ziemlich präzise so aussah wie das, was er verachtungsvoll »persönliche Betroffenheit« zu nennen pflegte. Wenzel bildete sich normalerweise viel darauf ein, bei einem Fall keine Gefühle zu kennen. Das war der Kern des ewigen Streits zwischen ihnen beiden. Ihr gingen, zugegeben, einige Fälle besonders nah. Gewalt gegen Frauen. Vergewaltigungen, Mißhandlungen in der Ehe. Marginalien, wie Wenzel einmal behauptet hatte. »Statistisch, liebe Frau Kollegin«, hatte er erst kürzlich wieder doziert, während sie kochte vor Wut, »statistisch sind die meisten Opfer junge Männer unter 25. Frauen als Opfer sind ein Randphänomen.«
    Im Prinzip hatte er recht. Statistisch. Andererseits: Durften Staatsanwälte keine Gefühle haben? Karen sah zu ihm hinüber. Wenn sie nicht alles täuschte, war Manfred Wenzel rot geworden bis unter den Haaransatz. War er vielleicht tatsächlich – persönlich betroffen?
    »Haben Sie ihn gekannt?« fragte sie nach einer Weile, diesmal sanfter.
    Er guckte noch immer aus dem Fenster. Nur die Schultern strafften sich. »Ja«, sagte er.
    »Gut?«
    »Vorübergehend – sehr gut. So gut, daß ich weiß , daß Alexander Bunge sich nicht für Pornographie mit Kindern interessierte.« Wenzel seufzte und sagte schließlich: »Verstehen Sie?«
    »Sie fühlen sich befangen.« Karen betrachtete den schmalen, fast überschlanken Mann mit der großen dunklen Hornbrille, die ihn wie einen Intellektuellen aus den 20er Jahren aussehen ließ. Manfred Wenzel und Männerfreundschaft? Das hätte sie ihm gar nicht zugetraut.
    »Ist in Ordnung«, sagte sie. »Ich laß mir die Akten kommen.«
    Sie verkniff sich die Bemerkung, daß normalerweise er derjenige war, der ihre Urteilsfähigkeit anzweifelte, weil sie Gefühle, Ahnungen und Zweifel zuließ. Schön, dachte sie, daß auch die Wahrnehmung von Staatsanwalt Dr. Manfred Wenzel keineswegs immer von jener unnachgiebigen Objektivität beseelt ist, die er normalerweise predigt.
    Nur der Fall selbst ließ sie kalt. Was Wenzel beschrieb, stand völlig im Einklang mit der auch von der Polizei vertretenen These, daß Alexander Bunge aus freien Stücken vom Kirchturm gesprungen war. An Verschwörungen und gezielte Falschmeldungen glaubte sie nicht. Politiker waren schließlich dafür bekannt, daß sie auch die schlimmsten Anschuldigungen, ja selbst die unschöne Wahrheit bis zum letzten auszusitzen in der Lage waren. So jemand sprang nicht vom Kirchturm, weil fremde dunkle Mächte ihn dazu trieben. So jemand trug die dunklen Mächte in sich selbst.

5
    Berlin
     
    Fast hätte sie protestiert, als die Frau im schwarzen, wallenden Kleid an ihr vorbei durch die Tür drängen wollte. Aber dann sah sie deren Gesicht. Die Frau hatte rotgeweinte Augen, ihre Lippen zitterten. Anne blieb im Türrahmen stehen und hörte, wie sich die kurzen, stolpernden Schritte den Flur hinunter entfernten. Eigentlich hatte sie soeben das Zimmer betreten wollen – ihr Zimmer, wie sie geglaubt hatte. Sie trat einen Schritt zurück. Auf dem Schild draußen stand noch immer »Dr. Alexander Bunge«. Sie fühlte ein mulmiges Gefühl in sich aufsteigen – auf Schattenboxen war sie nicht eingestellt gewesen. Aber Bunges Schatten schien überall zu sein.
    »Wir freuen uns, daß du da bist«, hatte Eva Seng während der Fraktionssitzung heute früh gesagt und dabei alles andere als freudig geguckt. »Du entschädigst uns für einen schweren Verlust …« Sie hatte getan, als ob ihr die Stimme bräche, theatralisch die Hand auf den Busen gelegt und in die Runde geguckt. Die meisten hatten stumm genickt und ernste Gesichter gemacht. Entweder, hatte Anne gedacht, vermissen sie ihn wirklich. Oder er ist ihnen so auf die Nerven gegangen, daß sie ihre klammheimliche Freude besonders heftig überspielen müssen.
    Sie

Weitere Kostenlose Bücher