nichts als die wahrheit
zitterten, als sie endlich antwortete. Dann senkte sie den Kopf, wie man es vor einer Horde unruhiger Bullen machen würde. Und redete von ihren Gefühlen. Von ihrer tiefen Bewunderung für Alexander Bunge, von der Trauer über seinen Verlust, vom Mitgefühl, das seiner Familie gebühre. Und ja, sie werde in der Baukommission seine Aufgaben übernehmen, ohne seinen Platz ausfüllen zu können. Und nein, sie könne sich bis heute nicht vorstellen, was an diesem schrecklichen Tag in Frankfurt wirklich passiert sei, sie warte, wie alle anderen auch, auf das Ergebnis der Ermittlungen. Und wie ein gut geölter Politikdarsteller hob sie zum Schluß ihrer Ausführungen beide Hände und bat um Verständnis dafür, daß sie nun wieder an die Arbeit müsse.
Als sie der Meute den Rücken zudrehte, atmete sie tief aus. Es gibt Dinge, dachte sie, die verlernt man nie. Diplomatische Verstellung gehörte dazu. Für einen Moment wußte sie nicht, ob sie das segensreich oder schade finden sollte.
Der Saaldiener hielt ihr bereits die Tür auf, als hinter ihr eine helle Stimme »Frau Burau?« rief. Sie drehte sich um und nickte, zögernd. Sie wollte bei der Abstimmung dabeisein.
»Das war eine gute Performance«, sagte die kleine blonde Frau mit dem Block in der Hand. Sie streckte ihr die Hand hin. »Lilly E. Meier.« Erwartete sie, daß ihr Name Anne etwas sagte?
Anne blickte auf die Uhr und deutete auf den Plenarsaal.
»Es dauert nicht lange«, sagte die Frau. »Ich soll ein Porträt über Sie schreiben – für das ›Journal‹.«
Anne merkte, wie ihr die Wärme ins Gesicht stieg. Sie hatte gedacht – sie hatte denken müssen … »Und – Peter …?« fragte sie, ohne zu überlegen.
Die andere lächelte gleichbleibend freundlich.
Anne korrigierte sich. »Sollte nicht Peter Zettel dieses Porträt schreiben? Er hat mir das schon vor einiger Zeit mitgeteilt, ich dachte nur …«
»Tut mir leid.« Lilly E. Meier schaute zu Boden. Sie hatte die dunkelblonden Locken streng gescheitelt und zurückgebürstet, was ihr Gesicht noch schmaler machte. »Sie müssen schon mit mir vorliebnehmen.«
»Aber …« Anne verstummte. Sie hatte, merkte sie plötzlich, fest damit gerechnet, ja, gehofft, Peter Zettel aus diesem Anlaß wiederzusehen.
»Sie sind hoffentlich nicht enttäuscht.« Die Journalistin sah noch immer nicht auf.
»Das nicht, aber …« Verdammt, Zettel, du Idiot, dachte Anne. Hättest du mich nicht vorwarnen können?
»Er hat immer so von Ihnen geschwärmt!« Lilly E. Meier hob den Kopf, lächelte ein völlig unschuldiges Lächeln und schien nicht zu ahnen, was sie mit dieser Bemerkung anrichtete.
Anne war für einen Moment sprachlos.
»Und wenn ich Sie so sehe – dann kann ich das gut verstehen!« Die Journalistin hatte ihren Mund spitzbübisch geschürzt.
Anne fühlte sich, als ob ihr jemand in den Magen geboxt hätte. Ein paar Sekunden lang wußte sie nicht, wen sie mehr hassen sollte: Die Frau, die da vor ihr stand und nicht zu wissen schien, was sie sagte. Oder Zettel.
Sie entschied sich für Peter, der sich mit ihr gebrüstet haben mußte. Mit einer Eroberung, mit der er, wie sie sich nur zu genau erinnerte, so gut wie nichts hatte anfangen können – oder wollen … Sie blickte in das freundliche Gesicht von Lilly Meier und fragte sich mit hochsteigender Übelkeit, was er wohl sonst noch erzählt haben mochte. Und wem. Bei diesem Gedanken wurde ihr kalt.
»Danke für das Kompliment, aber ich glaube, ich muß jetzt«, sagte sie mit aller Ruhe, die sie zustande brachte.
Die Journalistin nickte, griff in ihre Jacke, die innen eine Brusttasche hatte wie bei einem Männerjackett, drückte Anne eine Visitenkarte in die Hand und sagte: »Ich ruf bei Ihnen an, ja?«
Anne starrte erst auf das weiße Stück Pappe und dann der anderen hinterher. Sie hätte die Frau gern genauso unsympathisch gefunden wie ihre Kollegin – aber das gelang ihr nicht. Sie konnte ja nichts dafür. Sie war ja nur die Überbringerin der Botschaft. Statt dessen wünschte sich Anne mit Inbrunst, der Herrgott möge alle Männer mit größtmöglichem Verhängnis überziehen – vorsichtshalber alle, aber ganz besonders diejenigen, die in Anne Buraus Leben jemals eine Rolle gespielt hatten.
Im Plenarsaal stand gut die Hälfte der Abgeordneten, während die andere saß. Ihre Augen suchten nach Emre, der nicht zu sehen war. Wenigstens diesmal wollte sie nichts falsch machen und blieb stehen.
»Du hast soeben für den Antrag der Opposition
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