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nichts als die wahrheit

nichts als die wahrheit

Titel: nichts als die wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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Peters Freundin gesehen, deren eisblauer Blazer wie ein Fanal leuchtete inmitten der Riege der grauen und braunen Sakkoträger hinter und neben ihr. Nicht eifersüchtig sein, verordnete sie sich. Vor allem nicht auf so eine.
    »Willst du Nachhilfeunterricht?« Emre stieß sie freundschaftlich in die Seite.
    Sie nickte wieder.
    »Das Wichtigste zuerst«, sagte er.
    Sie versuchte, interessiert zu gucken.
    »Geld – beziehungsweise: wie du es unter Garantie verlierst.«
    Sie schüttelte den Kopf. »Hier?« Bundestagsabgeordnete waren nicht überbezahlt, aber mit Diäten und Kostenpauschale auch nicht gerade auf der Verliererstrecke.
    »Genau hier. Paragraph 14.1 des Abgeordnetengesetzes: Bevor du den Plenarsaal betrittst, mußt du dich in die Anwesenheitsliste eintragen. Tust du das nicht, werden dir hundertfünfzig Mark von der monatlichen Kostenpauschale abgezogen.«
    »Aha«, murmelte sie.
    »Nur neunzig Mark kostet deine Abwesenheit, wenn du dich vorher entschuldigt hast. Und 75 Mark sind fällig, wenn du bei einer namentlichen Abstimmung fehlst. Deshalb verlassen unsere notorischen Trinker donnerstags abends immer so schlagartig die Bundestagsbar, wenn zur Abstimmung aufgerufen wird.« Emre guckte an ihr vorbei zum linken Rand des Plenarsaals.
    »Siehst du die weißhaarige Frau dort oben in der grünen Bluse?«
    Anne nickte.
    »Bei der letzten Debatte über die Diätenerhöhung stand sie plötzlich empört da und behauptete, sie wisse gar nicht, worüber hier geredet werde. Sie erhalte mindestens dreitausend Mark im Monat weniger als das Abgeordnetengehalt plus Kostenpauschale, von dem hier immer die Rede sei.« Emre legte eine kunstvolle Pause ein.
    »Du meinst …?« fragte Anne, um ihm den Gefallen zu tun.
    Emre nickte. »Die Freifrau von Hoppenstedt hat jahrelang, jahrzehntelang nicht gewußt, daß sie sich in die Anwesenheitsliste hätte eintragen müssen und hat deshalb den Höchstsatz möglicher Strafen gezahlt.«
    Anne schreckte auf, als der Gong ertönte. »Jetzt spricht der Performancekünstler mit den derzeit höchsten Lachwerten«, flüsterte Emre.
    Der Abgeordnete der Oppositionspartei gab in der Tat ein beachtliches Schauspiel. Erst stützte er sich mit beiden Armen aufs Pult und wippte auf und ab. Dann begann er die Arme zu heben und mit den Händen schraubende Bewegungen zu machen. Dann ballte er die linke Hand zur Faust und durchschnitt mit der rechten die Luft, als ob er einen imaginären Gegner mit Handkantenschlägen erledigte. Schließlich hob er beide Fäuste und führte sie ruckartig aufeinander zu, wie ein Dirigent, wenn es dramatisch wurde. Zum Schluß seiner Rede glänzte Schweiß auf seiner Stirn. Anne hatte kein Wort verstanden und war dennoch tief beeindruckt.
    Das Hohe Haus bot eine Menge fürs Auge. Bei der größeren der beiden Regierungsparteien hatte fast jede der gar nicht mal wenigen weiblichen Abgeordneten rot gefärbte Haare – ein leicht ins Schrille wanderndes Signalrot. Bei der größten der Oppositionsparteien bevorzugten die Damen pastellfarbene Blusen und Kostüme. In ihrer eigenen Fraktion erwiesen sich die Herren als modische Avantgarde des Hauses, die Frauen hatten ein Faible für enggeschnittene Hosen unter strengen Sakkos.
    Je länger sie die Blicke durchs Plenum schweifen ließ, desto mehr bekannte Gesichter entdeckte sie – Politiker, die sie seit Jahren im Fernsehen gesehen hatte. Und jetzt gehörst du dazu, dachte sie mit einem seltsamen Gefühl in der Magengrube und merkte erst gar nicht, daß ein Saaldiener neben ihr stand. Verwirrt schaute sie auf. Es war Walter, der junge Mann mit dem Ring im Ohr, der sie vorhin nach ihrem Namen gefragt hatte.
    Er hielt ihr eine Visitenkarte hin und flüsterte: »Sie werden in die Lobby gebeten.«
    Fragend guckte sie zu Emre hinüber, der spöttisch nickte. »Siehst du – es geht schon los.«
    »Was geht los?«
    »Geh nur. Das wirst du gleich sehen.«
    Als sie in die Lobby trat, sah sie sich einer unüberschaubaren Menge von Fernsehteams, Bildfotografen und jungen Menschen gegenüber, die ihr Schreibblock und Stift entgegenreckten. Nach ein paar Schrecksekunden zählte sie zwei Kameras, drei Fotografen und fünf Journalisten, die alle auf sie einredeten.
    »Was sagen Sie zum Tod Ihres Vorgängers?«
    »Werden Sie Alexander Bunges Aufgaben übernehmen?«
    »Was meinen Sie – war es Selbstmord?«
    Sie rückte die Beine ein bißchen auseinander und legte ihre Hände auf den Rücken, so daß niemand merken konnte, wie sie

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