nichts als die wahrheit
hatte ebenso ernst zurückgenickt. »Es fällt mir schwer, unter diesen tragischen Umständen mein Mandat anzutreten«, hörte sie sich zu ihrer Verblüffung salbungsvoll sagen. Schau an, hatte sie gedacht. Sie beherrschte das Spiel noch immer.
Bunges Büro – ihr Büro – sah unaufgeräumt aus. Über den Bildschirm auf dem Schreibtisch in der Mitte wogte ein grüner Bildschirmschoner in Gestalt eines Spruchbands, dessen Botschaft sie nicht entziffern konnte. Aus der Fülle der zusammengeknüllten Tempotaschentücher schloß sie, daß hier der Arbeitsplatz der Sekretärin war, die soeben vor ihr geflüchtet zu sein schien.
Anne betrat den Raum und machte die Tür hinter sich zu. Zwei Schreibtische standen hier, auf dem einen der eingeschaltete Computermonitor, der andere schien unbesetzt. An der Wand gegenüber vom Schreibtisch, an dem offenbar bis vor kurzem noch gearbeitet worden war, hingen Fotos, dutzendweise, manche im Rahmen, manche seitwärts darunter geklemmt. Als Anne näher trat, erkannte sie Bunge. Bunge mit einem Spaten und siegesgewissem Lächeln, Bunge auf einem Sektempfang, Bunge mit einem Helm auf dem Kopf, der vorn eine Lampe hatte. Bunge, der einen undefinierbaren Gegenstand triumphierend in die Kamera hielt. Bunge mit dem Außenminister, Bunge mit dem Kanzler, Bunge mit der Präsidentin. Bunge am Rednerpult. Bunge auf einer Wahlveranstaltung. Bunge allgegenwärtig.
Auf Anne wirkte der Anblick dieser Galerie von Heiligenbildern wie eine kalte Dusche. Kopfschüttelnd ging sie ins Zimmer nebenan. Die Vorhänge waren zugezogen, das Zimmer lag im Halbdunkel. Als sie das Deckenlicht anmachte, mußte sie die Augen zusammenkneifen. Dann sah sie das gerahmte Porträtfoto auf dem Schreibtisch in der Mitte des Raumes stehen: Alexander Bunge natürlich, versehen mit schwarzem Trauerflor, daneben eine Kerze, darunter Kondolenzkarten. Ein Strauß weißer Lilien verbreitete süßlichen Duft. Mit zwei Schritten war Anne beim Fenster, riß die Vorhänge zur Seite, öffnete alle Flügel und ließ Luft in den Raum.
Sie war gewarnt. Einen leichten Stand würde sie nicht haben.
Sie räumte die Kondolenzkarten zusammen und legte sie, zusammen mit dem Foto, der Sekretärin auf den Schreibtisch. Dann schloß sie die Tür zum Sekretariat hinter sich und sah sich um – in ihrem Zimmer. Das Bücherregal mußte leer geräumt werden. Auf den angestaubten Ficus in der Ecke konnte sie verzichten, ebenso auf den mit kackbraunem Kord bezogenen Sessel. Nur die große Karte an der Wand – eine Karte von Berlin, auf dem die jetzigen und künftigen Bauprojekte des Bundes eingezeichnet waren – wollte sie behalten.
Sie setzte sich auf den ihr entgegenfedernden, mit graumeliertem Stoff bezogenen Schreibtischstuhl und stützte das Kinn in die geballten Fäuste. Der Empfang war alles andere als herzlich gewesen. Selbst schuld, dachte sie. Niemand hat dich gerufen.
Und niemand brauchte sie hier. Nur sie hatte geglaubt, sie sei sich und der Welt noch etwas schuldig. Nur sie hatte nicht versauern wollen in der Rhön. Sie hatte Leo nicht das letzte Wort lassen wollen – Gott hab ihn selig, den Stasispitzel. Anne legte den Kopf in die ausgebreiteten Hände. Was für eine Schwachsinnsidee. Der Kreisverband von Haslingen hatte sich auf sie nur eingelassen, weil der Parteivorstand ihre Kandidatur unterstützte. »Vergiß den alten Mist, Anne«, hatte Jupp damals zu ihr gesagt, als sie ihn nach seiner Meinung fragte. »Verlaß die selbstgewählte Verbannung. Wir haben viel zu wenige von deiner Sorte.« Beliebter machte solche Protektion nicht. »Wir sind doch kein Wohltätigkeitsverein für arme Stasiopfer«, hatte ihr Linde Steinhauer vor der entscheidenden Abstimmung zugezischt.
Daß sie hernach im Wahlkampf mit äußerstem Einsatz dabeigewesen war, hatte auch nicht viel geholfen. »Ich versteh’ dein Engagement«, hatte Linde einmal spöttisch gesagt. »Eigeninteresse ist ein mächtiger Motor.« Genützt hatte es nichts. Mindestens das Ergebnis der letzten Bundestagswahlen hätte die Partei wieder einfahren müssen, damit Anne ins Parlament hätte einziehen können. Sie war nur knapp gescheitert. Bis vor kurzem war ihr das als verdienter Sieg in der Niederlage erschienen.
Das durchdringende Gedudel des Telefons ließ sie hochschrecken. Sie griff nach dem Hörer. »Ja?« sagte sie und schob hastig ein »Anne Burau« hinterher. Der Anrufer konnte ja nicht wissen, wer sie war. Dieser hier schien es zu wissen.
»Paß auf dich auf,
Weitere Kostenlose Bücher