nichts als die wahrheit
haben. »Das Herz wies Muskelrisse und unzählige Blutungen auf.«
»Und?«
»Solche Verletzungen lassen darauf schließen, daß der Mann vor seinem Tod unter erheblichem Streß stand. Es ist aus der Literatur allgemein bekannt, daß extreme Angstzustände das Gehirn dazu veranlassen können, die Botenstoffe Adrenalin und Noradrenalin über die Nervenbahnen direkt ins Innere des Herzens abzugeben. Dadurch öffnen sich schlagartig die Ionenkanäle auf den Muskelzellen des Herzens, und die Zellen werden von Kalziumionen überschwemmt.«
Wenzel hockte wie ein melancholischer Bussard auf der Vorderkante seines Sessels und hatte die rechte Hand erhoben, als ob er seine Thesen an allen fünf Fingern abzählen wollte. Karen seufzte innerlich auf. Der Kollege bildete sich etwas darauf ein, aus den Autopsieberichten mehr herauslesen zu können als andere – mehr vor allem als die Gerichtsmedizinerin, mit der ihn ein ähnlich herzliches Verhältnis verband wie mit ihr.
»Man nimmt nun an, daß sich die Herzmuskelzellen unter diesem Ansturm so verkrampfen können, daß es das Herz zerreißt. Bei Opfern von Raubüberfällen, von Geiselnahmen oder Vergewaltigungen waren viele Fasern der Herzmuskeln regelrecht durchgerissen.«
Karen hob, aufgabebereit, beide Hände. »Und was lehrt uns das?«
Wenzel zuckte bedeutungsvoll die Schultern.
Karen sah ihn mit gerunzelten Augenbrauen an. »Hat ein Selbstmörder keinen Streß, bevor er springt?«
»Schon, aber …« Wenzel wiegte zweifelnd den Kopf.
Karen fächelte sich mit dem Prospekt des prominentesten Kücheneinrichters von Frankfurt Luft zu. Dann blickte sie wieder auf die Uhr und legte das bunte Blatt resigniert beiseite. Für heute konnte sie den Gedanken an einen Beutezug durch Frankfurts Einrichtungshäuser streichen. Warum alle Welt vom antiquierten deutschen Ladenschlußgesetz schwärmte, war ihr ein Rätsel. Verbrecher und Staatsanwälte hielten sich schließlich auch nicht an einen verordneten Feierabend.
»Das reicht mir alles nicht«, sagte sie. »Was haben Sie noch?«
Wenzel hob die schmalen Schultern unter der schwarzen Robe, ließ sie wieder fallen und schwieg.
»Kommen Sie, Herr Kollege. Spannen Sie mich nicht auf die Folter.«
Wenzel guckte aus dem Fenster und sagte schließlich: »Bunge war ein wichtiger Mann.«
»War mir bislang noch nicht aufgefallen.«
»Bei Ihnen zählen wohl auch nur die, deren Geschwätz man jeden Tag in der ›Tagesschau‹ serviert bekommt.« Er verzog den Mund zu einem schmalen Strich. »Echte Macht ist unauffällig.«
»Zugegeben. Und weiter.« Karen kontrollierte den roten Lack auf ihren Fingernägeln.
»Alexander Bunge war Vorsitzender der Baukommission des Ältestenrates im Bundestag und für die Bauvorhaben des Bundes in Berlin zuständig gewesen. Das entsprechende Bauvolumen, über das diese Kommission zu entscheiden hat, ist gigantisch.« Wenzel klopfte bei jedem Einzelposten mit der Hand auf die Armlehne: »Umbau des Reichstags. Neubau der Abgeordnetenbüros. Neubau von Abgeordnetenwohnungen. Umbau und Neubau …«
»Ich versteh’ schon. Und deshalb …?«
Wenzel schüttelte den Kopf. »Das ist erst der Anfang. Hinzu kommen Umbau und Neubau sämtlicher Regierungsgebäude, das neue Bundeskanzleramt, die Landesvertretungen …«
»Also Geld. Bestechung. Korruption. Das übliche.«
»Vielleicht. Bunge hat sich vor allem in der Auseinandersetzung mit den Berliner Behörden profiliert, die das eine oder andere Filetstück im Regierungsviertel lieber einem internationalen Investor mit Gold an den Füßen zugeschustert hätten. Berlin geht in die Knie, wenn es ums Geld geht. Gucken Sie sich nur den Potsdamer Platz an, diese städtebauliche Todsünde.« Wenzel machte ein Gesicht wie ein geborener Städtebaukritiker.
Karen grinste unwillkürlich. Sie hatte sich den Potsdamer Platz zwar noch nicht angeguckt, aber sie war zumindestens bereit einzuräumen, daß man nicht überall Fachwerkhäuser hinstellen konnte.
»Bunge war ihnen im Weg. Sein Tod …«
»Mord?« Karen ließ Wenzel ihre Skepsis spüren. »Die Berliner?«
»Nein.« Wenzel seufzte auf, als ob er es mit einer unbelehrbaren Schülerin zu tun hätte. »Besser gesagt: wahrscheinlich nein. Aber ein unbestechlicher Mann ist schon manchem Großinvestor ein Dorn im Auge gewesen. Gut möglich, daß man dort glaubte, mit einem anderen an seiner Stelle könne man leichter ins Geschäft kommen.«
»Also hat man ihn unter Druck gesetzt?«
Wenzel hob die
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