Nichts als Erlösung
der Realität. Sie wählt die 110, sieht im selben Moment einen Trupp Männer auf sich zulaufen.
»My wife fell right into him«, sagt der Amerikaner ins Leere. »We were just looking for a place to sit down.«
Judith springt auf, läuft den Herankommenden entgegen, hebt den freien Arm zu einer imaginären Schranke.
»Stopp. Polizei! Bleiben Sie stehen!«
Die Männer lachen. Einer rennt sogar noch schneller, als sei sie überhaupt nicht da. Sie riecht seine Fahne, springt vor ihn und stoppt ihn, indem sie die flache Hand gegen seine Brust schlägt. Er grunzt, schwankt, fängt sich wieder und senkt seinen Blick auf ihre Brüste, ihre Shorts, ihre nackten Beine.
Aus dem Handy hört sie die fragende Stimme des Kollegen der Einsatzzentrale.
»KHK Krieger, KK 11, ich brauche Verstärkung. Schnell.«
Sie haspelt ihren Standort ins Handy, sieht weitere Gaffer über die Wiese kommen. Auch der Amerikaner erwacht nun aus seiner Lethargie und versucht seine Ehefrau auf die Beine zu ziehen.
»Stay here. Please!« Judith langt hinter sich, umfasst seine Schulter und drückt sie. Er gibt nach, sinkt in sich zusammen. Seine Frau ist ohnehin in ihrer eigenen Welt gefangen, sie sitzt wie erstarrt, ab und an leise wimmernd.
Der Betrunkene schiebt wieder vorwärts, zwei seiner Kumpels tun es ihm nach. Blitzlichter zucken auf. Mehrere der Schaulustigen haben ihre Handys gezückt und fotografieren. Verdammt. Verdammt! Die Situation entgleitet ihr, ist überhaupt nicht zu kontrollieren.
»Polizei! Mordkommission! Treten Sie zurück!«
Judith entreißt dem ihr am nächsten stehenden Knipser sein Handy.
»Das ist konfisziert. Unterlassen Sie das Fotografieren!«
»He!«
Der Mann grapscht nach ihrem Arm. Sie weicht ihm aus. Die Meute johlt. Auf der Brücke lärmt der nächste Zug. Instinktiv blickt Judith hoch, sieht die Gestalt eines Mannes, der auf sie herabblickt. Derselbe Mann, der vorhin vor ihr weglief? Ein Zeuge? Der Täter? Jetzt, hier, lange nach der Tat? Doch selbst wenn es so wäre, wie sollte sie das beweisen? Sie hat ja nicht einmal sein Gesicht gesehen.
Wieder zuckt Blitzlicht auf, doch diesmal bekommt sie das Handy nicht zu fassen, der Gaffer ist zu schnell für sie und zu groß. Wenn sie Glück hat, ist nur sie selbst auf den Fotos zu sehen, nicht die Amerikaner, nicht das Opfer. Glück. Unglück. Man glaubt, das sind feste Größen, und vergisst, wie schnell das eine zum anderen wird.
Endlich erklingt das Geheul eines Martinshorns. Ein weiteres folgt. Die Menge raunt.
»Hier!« Judith schreit den Kollegen Anweisungen entgegen. »Absperren, sichern – auch oben auf der Brücke, Personalien aufnehmen. Fotohandys konfiszieren!«
Zwei Polizisten entfalten eine Decke als provisorischen Sichtschutz. Sie lässt sich eine Taschenlampe geben, tritt dahinter und beugt sich über den Toten, zwingt sich hinzusehen. Ein durchtrainierter Mann, blond, braun gebrannt. Vielleicht auch ein Tourist. Ohne Gepäck. Ohne Gesicht. Welche Waffe hat solche Zerstörungskraft? Mit welcher Munition? Was für ein Albtraum für ein junges Liebespaar, an einem vermeintlich lauschigen Plätzchen im Urlaub mitten in eine blutige Fratze zu greifen.
»Und, Judith, was denkst du?«
Sie zuckt zusammen, sie hat ihren Chef nicht kommen gehört. Auch er hält eine Taschenlampe und geht neben ihr in die Hocke.
»Eine Hinrichtung«, sagt sie leise und sieht auf einmal wieder das Pferd aus dem Traum vor sich, sein schimmerndes Fell, seinen unverwandten Blick.
Millstätt hebt die Brauen, studiert erst den Toten und dann sie.
Sie wünscht sich, sie hätte etwas anderes an als die Shorts und das knappe, verschwitzte Top. Sie wünscht sich, so manchen Vorfall im letzten Jahr hätte es nicht gegeben, dann wäre ihr Verhältnis zu ihrem Chef nicht so kompliziert.
»Dein Fall, Judith«, sagt er nach einer langen Pause.
***
Die Mücken fressen ihn, als habe er sich statt mit Autan mit einem blutigen Steak eingerieben. Er schmiert sich Spucke auf die Stirn, wo ihn eine ganze Reihe juckender Beulen quält. Angeblich werden im hessischen Ried jedes Frühjahr Insektizide versprüht, um die Schnaken in Schach zu halten. Aber den Steiner Wald hat man wohl ausgelassen, vermutlich aus Naturschutzgründen. Oder die Viecher sind durch die Chemie mutiert, unempfindlich gegen alles, sogar durch die Jeans stechen sie ihn, es sei denn, der Juckreiz an seinen Oberschenkeln ist eine Halluzination. Eric Sievert führt den Detektor in die nächste Suchbewegung. An
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