Nichts als Erlösung
Luftzug weht. Unwirklich kommt ihr alles auf einmal vor, als schlafwandle sie oder sei plötzlich in einer Stadt ohne Einwohner erwacht. Selbst der Rhein scheint sich aufzulösen, wird von Tag zu Tag schmaler. Seit einer Woche ist er für die Schifffahrt gesperrt. Die Unbarmherzigkeit dieses Sommers zehrt auch an ihm. Judith läuft Richtung Altstadt. Ein Jogger mit Stirnlampe überholt sie, dann ein Radfahrer ohne Licht. Sie geht schneller, in Gedanken noch immer bei ihrem Traum. Die Landschaft war anders als früher, unbekannt, und sie ist nicht auf dem Schimmel geritten. Vielleicht ist das ein gutes Zeichen, vielleicht sogar ein anderes Pferd. Vielleicht hat dieser Traum auch überhaupt nichts zu bedeuten.
Über der Altstadt liegt Zwielicht. Die Kneipen und Biergärten haben längst geschlossen, doch auf den Wiesen an der Promenade lagern noch immer Nachtschwärmer, zu zweit oder in Grüppchen. Sie kann ihre Stimmen hören, Musikfetzen, Lachen. Ein eng umschlungenes Paar schlendert aus dem Lichtkegel einer Laterne ins Dunkel. Irgendwo spielt jemand Gitarre und singt von Liebe, wechselt dann übergangslos zu Bob Dylan. The answer my friend is blowin’ in the wind. Lagerfeuerprotestmusik. Der Soundtrack zu einem anderen Traum. Lange her und doch nicht vergessen.
Sie denkt an Karl, seinen Körper, seine Hände, wie gut es sich anfühlt mit ihm, wie richtig. Sie will zurück zu ihm, da hört sie die Schreie, unartikuliert und voller Entsetzen.
Judith rennt los, dorthin, woher die Schreie zu kommen scheinen. Es ist kein bewusster Beschluss, ihr Körper reagiert, bevor sie das wirklich begreift, die Polizistin in ihr. Wo? Wer? Was? Die Fragen hämmern im Takt ihrer Schritte. Tragen sie zu der Stelle, wo sie gerade das Liebespaar sah. Jetzt sind die beiden verschwunden, als hätten sie sich in Luft aufgelöst. Judith stoppt ab und dreht sich einmal um ihre Achse. Das Licht ist diffus, die Schatten sind tief. Sie kann das Gelände nur schwer überblicken. Wieder ein Schrei, etwas näher, schriller. Der Schrei einer Frau, begreift Judith plötzlich. Surreal fast, denn noch immer gibt es auch Gelächter und Dylan.
Ein Zug auf der Eisenbahnbrücke verschluckt für Sekunden alle Geräusche. Eine der Laternen im Park flackert unkontrolliert, macht die Orientierung noch schwerer. Nur der Dom thront mit steinerner Ruhe über dem Gelände. Der Dom, die Philharmonie und daneben die Brücke.
Wo, verdammt? Wo? Der Zuglärm ebbt ab, jetzt schreit niemand mehr, aber in einem Gebüsch vor dem Aufstieg zum Dom glaubt Judith eine Bewegung zu sehen. Ist das die Stelle, woher die Schreie kamen? Judith rennt darauf zu, erkennt einen Mann, der sich aus dem Schatten löst. Einen Moment lang blickt er ihr entgegen, dann dreht er sich um und beginnt zu laufen.
»Halt! Stehen bleiben! Polizei!«
Ihre Kehle ist wund, ihre Lunge tobt. Der Mann hört nicht auf sie, läuft sogar noch schneller. Sie setzt ihm hinterher. Sie muss ihn stoppen, ihn zumindest erkennen, sein Gesicht, seine Kleidung, irgendwas. Aussichtslos. Chancenlos, er hat viel zu viel Vorsprung. Sie stoppt ab, als sie wieder die Schreie hört, nein, keine Schreie mehr, eher ein Klagen, »No! No! No!«.
Schweiß strömt Judith übers Gesicht, ihre Lunge brennt so, dass sie husten muss. Der Mann aus dem Gebüsch sprintet die Treppen zum Dom hinauf und verschwindet aus ihrem Sichtfeld.
»Help! Here!«
Ein Mann ruft das. Er kniet im Schatten der Brücke und hält eine Frau im Arm, die unkontrolliert zittert. Ihr helles Minikleid ist dunkel beschmiert.
Judith läuft zu den beiden hinüber, hockt sich zu ihnen, tastet nach ihrem Handy.
»Police. Polizei. Sind Sie verletzt? Are you okay?«
Die Frau scheint Judith überhaupt nicht wahrzunehmen, der Mann reagiert im Zeitlupentempo, nickt und zeigt hinter sich ins Dunkle. Die Gestalt eines weiteren Mannes liegt dort, bewegungslos. Die Frau stöhnt auf und beginnt ihre Hände im Gras zu reiben, zögernd erst, dann immer schneller.
Unwirklichkeit, aber anders jetzt. Die Unwirklichkeit des Todes, nicht die aus einem Traum.
»Hallo?«
Judith fasst den Liegenden an der Schulter, riecht im selben Moment Blut. Sie drückt eine Taste ihres Handys. Das Display wirft blaues Licht auf das, was einmal ein Gesicht gewesen ist. Die Frau in Judiths Rücken beginnt sich zu erbrechen.
Das Display erlischt und mit ihm die blutige Fratze.
Traum. Albtraum. Auf Fotos in der Polizeischule hat sie solche Verletzungen schon mal gesehen, aber nicht in
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