Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nichts als Erlösung

Nichts als Erlösung

Titel: Nichts als Erlösung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
Vom Netzwerk:
ist doch irre!«
    »Ja.«
    »Das kann jeder gewesen sein, Judith. Irgendein Gaffer.«
    Sie sieht ihn an, guckt zugleich durch ihn durch. Ein typischer Krieger-Blick.
    »Und wenn nicht?«, fragt sie.
    ***
    Der Tee ist sehr stark und sehr süß, und er schmeckt überwältigend nach frischer Minze. Ein Aromaschock, der für ein paar Augenblicke ihre Müdigkeit vertreibt. Judith lehnt sich zurück, die Holzlehne des Besucherstuhls in Ekaterina Petrowas winzigem Büro drückt kühl gegen ihre nackten Schultern. Der Tag geht zu Ende, das Gefühl von Unwirklichkeit ist geblieben. Sie haben niemanden gefunden, der einen Schuss gehört hat. Kein Hotel, wo ein Mann, auf den die rudimentäre Beschreibung des Toten passt, eingecheckt hat und dann verschwunden ist. Auch eine Vermisstenmeldung liegt nicht vor. Wer ist dieser Mann? Wo war er gewesen, bevor er auf seinen Mörder traf? Nicht einmal das können sie bislang rekonstruieren. Möglicherweise hatte er eine Altstadtkneipe besucht und war bereits dort seinem Mörder begegnet. Oder er war von einem der Ausflugsschiffe gekommen, die jetzt im Sommer quasi im Stundentakt vor der Altstadt anlegen. Oder vom Hauptbahnhof. Es wird Stunden dauern, Tage, das Material aus den Überwachungskameras auszuwerten, und es ist völlig sinnlos, alle Wirte, Schiffer, Ladeninhaber nach einem blonden Mann in Jeans und T-Shirt zu fragen, solange sie kein präsentables Foto von ihm haben.
    Warten, immer warten, die Schattenseite der Ermittlungsarbeit. Warten auf die Ergebnisse der Kriminaltechnik, eine brauchbare Zeugenaussage, einen Zufall, der weiterhilft. Sogar auf den Staatsanwalt müssen sie heute warten. Der Tote aus der Altstadt liegt zwar im Sektionskeller bereit, doch ohne den Staatsanwalt darf die Obduktion nicht beginnen.
    Judith trinkt ihren Tee aus und stellt die Tasse auf Ekaterinas Schreibtisch. Manni sitzt neben ihr und schweigt, seine Augen sind wie hypnotisiert auf den bonbonrosa Lackgürtel der Rechtsmedizinerin geheftet, dessen strassbesetzte Schnalle bei jeder Bewegung das Licht der Abendsonne, die durchs Fenster fällt, anders reflektiert. Jetzt hör bitte auf mit deinem Verfolgungswahn, hat er am Morgen zu ihr gesagt. Sie betrachtet sein Profil, die blauen Augen, die gerade Nase, die glatte Haut, das aus der Stirn gekämmte Haar. Glatt, viel zu glatt, hat sie früher gedacht, aber das ist lange her. Sie weiß inzwischen um seine Tiefen, auch wenn er nur wenig Persönliches von sich preisgibt. Doch in letzter Zeit hat er sich verändert, irgendetwas ist mit ihm, scheint ihn zu belasten, sie weiß noch nicht, was, es ist nur ein Gefühl, ebenso wenig beweisbar wie die Anwesenheit des Täters am Tatort, Stunden nach seiner Tat.
    Sie will rauchen. Dringend. Rauchen, duschen, essen, schlafen. 52 Tage ohne Zigarette. Irgendwann wird das Verlangen erträglich, sagen die, die es geschafft haben, die Sucht lässt nach, so als habe sie niemals existiert. Freiheit wird an ihre Stelle treten. Die Freiheit, keine Zigarette mehr zu brauchen. Freiheit. Sie stellt sich die beiden Männer im Schatten der Brücke vor, die Waffe am Hinterkopf des einen, die Panik, den Hass, das Warten auf ein Geräusch, das laut genug ist, den Schuss zu übertönen. Ein Schalldämpfer wäre bei diesem Kaliber wirkungslos, haben die Kriminaltechniker erklärt, nachdem sie das Projektil sichergestellt hatten. 9 mm Luger, ein Deformationsgeschoss. Wie lange hat das Warten vor dem Schuss gedauert? Sekunden, Minuten, noch länger? Für den, der weiß, dass er gleich sterben wird, in jedem Fall eine unerträgliche Ewigkeit. Haben die beiden noch gesprochen, oder war zu diesem Zeitpunkt schon alles gesagt? Hat der blonde Unbekannte um Gnade gefleht? Eine Exekution, mitten in einer Sommernacht voller Leben. Vielleicht gab es nur diese eine Chance für den Täter, sein Opfer zu stellen, diesen einen Ort. Vielleicht hat er nicht einmal damit gerechnet, unbehelligt zu entkommen, hat sich darüber gar keine Gedanken gemacht, weil er völlig auf dieses eine Ziel fixiert war: sein Opfer zu töten, warum auch immer.
    Auf einmal muss sie an Karl denken, sieht ihn dort im Park auf dem Boden liegen, halb auf den Bauch gedreht, als schliefe er, aber nie wieder atmend, nie wieder lebendig, nie wieder mit dem Gesicht, das sie liebt. Ein Tabugedanke, eine Angstfantasie. Sie springt auf und geht zum Fenster. Der Himmel ist phosphoreszierend orange, die untergehende Sonne sticht ihr direkt in die Augen. Sie setzt sich wieder hin,

Weitere Kostenlose Bücher