Nichts als Knochen
Jan unterdrücken lassen, falls Sie das vermuten.«
»War das die einzige Situation, in der Jan handgreiflich geworden ist?«
»Jedenfalls die einzige, von der ich weiß, und ich glaube, dass sie es mir erzählt hätte, wenn es da ein ernsthaftes Problem mit Jan gegeben hätte. Nein, ich bin mir eigentlich sehr sicher, dass dies ein Ausnahmefall war, den sie ihm verziehen hat.«
Thomas warf Sven einen fragenden Blick zu, und dieser wandte sich noch einmal an den jungen Mönch.
»Wissen Sie, wie Jan mit Nachnamen heißt und wo er wohnt?«
»Zander. Jan Zander. Er wohnt irgendwo in Köln, aber das müssten Sie ja wohl auch ohne mich herausfinden.«
»Sicher.« Sven nickte. »Falls das momentan alles ist, was Ihnen einfällt, möchten wir uns zunächst einmal bei Ihnen bedanken. Wenn Ihnen noch etwas einfällt, das von Belang sein könnte, lassen Sie es uns bitte wissen.«
Sven zog eine Visitenkarte aus seiner Jackentasche und reichte sie Bruder Andreas, der sie entgegennahm, eine Weile darauf starrte und schließlich mit leiser Stimme fragte: »Ihre Leiche, wird sie …?«
Thomas legte eine Hand auf seine Schulter und sah ihm fest in die Augen.
»Ja, sie wird noch obduziert werden. Wir müssen das tun, verstehen Sie? Vielleicht erlangen wir hieraus Erkenntnisse, die wir bisher außer Acht gelassen hatten. Aber sobald es möglich ist, werden wir den Leichnam Ihrer Schwester für die Beerdigung freigeben.«
Bruder Andreas nickte und murmelte: »Danke.«
Damit drehte er sich um und verließ mit gesenktem Kopf den Raum. Die anderen drei folgten ihm nach.
»Ich bringe Sie noch nach draußen«, sagte der Abt und seufzte leise, als sein Blick der sich entfernenden Gestalt des jungen Mönchs folgte.
Dario Forza saß in der Bibliothek vor einem aufgeschlagenen Buch und tat so, als lese er. Doch immer wieder verließ sein Blick die verschnörkelten Buchstaben vor ihm und folgte der Gestalt von Bruder Andreas, der sich wie ein Schlafwandler scheinbar ziellos an den Regalen entlang tastete.
Das gefiel ihm gar nicht, irgendetwas stimmte hier nicht. Er betrachtete die blonden Haare und das fein geschnittene Profil des Mönchs, und ein leichtes Beben lief durch seinen Körper. Atemlos verfolgte er, wie Bruder Andreas sich an einem Stuhl festklammerte, während er erneut von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt wurde. Das war jetzt schon das fünfte Mal innerhalb der letzten halben Stunde. Das Gesicht des Mönchs wirkte eingefallen und fahl, die Augen glänzten fiebrig. Wieder griff er in sein Gewand, um nach dem Asthmamittel zu angeln. Dario beobachtete ihn jetzt unverhohlen, und ein Gefühl, das er nicht zu deuten vermochte, nagte irgendwo in seinem Innern.
Plötzlich gab Bruder Andreas ein merkwürdiges Pfeifen von sich, warf Dario einen gequälten Blick zu und sackte zu Boden. Dario sprang auf, wobei er den Stuhl umwarf, auf dem er gesessen hatte, und eilte die paar Meter hinüber, so schnell es seine Kutte erlaubte.
»Bruder Andreas«, rief er, und in seiner Stimme schwang ein Unterton von Panik mit. Er ließ sich neben den Mönch auf den Boden sinken und zog dessen Kopf auf seine Knie.
»Was ist mit dir?«, wisperte er und strich ihm die blonden Haare aus der Stirn. Die Haut fühlte sich heiß an. Die Augen waren bis auf einen kleinen Spalt geschlossen, und durch den halb geöffneten Mund kamen die Atemzüge rasselnd und angestrengt. Gehetzt sah Dario sich um. Sie waren allein. Kurz vor der Komplet waren die anderen Mönche wohl schon alle auf dem Weg zur Abteikirche. Verzweifelt holte er tief Luft und schrie, so laut er konnte: »Hilfe! Ist niemand mehr da?« Erleichtert schloss er kurz die Augen, als er wenige Sekunden später schnelle Schritte hörte, die sich rasch näherten.
»Hier drüben sind wir«, rief er noch einmal, als er kurz darauf den grauen Haarschopf von Bruder Lukas in der Tür erscheinen sah. Der Mönch eilte herbei, als er die beiden entdeckt hatte, und ließ sich ebenfalls auf die Knie fallen. Kurz entschlossen packte er mit der Linken das Kinn des bewusstlosen Mönchs und schlug ihm mit der Rechten einige Male links und rechts auf die Wangen. Die Augenlider flackerten ein paar Mal, und ein Stöhnen kam aus dem Mund seines Mitbruders.
»Bruder Andreas! Aufwachen! Du bist bewusstlos geworden. Komm schon, wach auf!«
Erneut gab Bruder Lukas ihm leichte Schläge auf die Wangen und murmelte: »Armer Kerl, es war alles etwas viel für ihn heute. Seine Zwillingsschwester ist ermordet
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