Nichts als Knochen
Sie, dass Sie den Mord an meiner Schwester schnell aufklären.«
Er brach ab, als ihn ein heftiger Hustenanfall schüttelte. Geduldig wartete Thomas ab, bis er sich wieder beruhigt hatte, und fing dann behutsam mit der Befragung an.
»Wie war Ihr Verhältnis zu Ihrer Schwester? Haben Sie sich häufig gesehen?«
»Wir hatten ein sehr …«, er zögerte und holte einmal rasselnd Luft, »enges Verhältnis. So wie es bei Zwillingen häufig der Fall ist.«
»Zwillinge?«
Thomas sah ihn überrascht an.
»Ja, zweieiig natürlich.«
»Ach?«
Thomas warf einen Blick zu Sven herüber und stellte fest, dass dieser mindestens genauso ungläubig aussah wie er selbst.
»Wir waren den größten Teil unseres Lebens unzertrennlich«, fuhr Bruder Andreas fort. »Als unsere Eltern bei einem Autounfall ums Leben kamen, waren wir gerade achtzehn und gingen noch zur Schule. Danach sind wir eher noch enger zusammengerückt. Plötzlich war da kein Mensch mehr außer uns beiden, verstehen Sie?«
Er sah von Thomas zu Sven und wieder zurück zu Thomas, der verständnisvoll nickte.
»Wir waren füreinander alles, wir waren füreinander der Mittelpunkt der Welt.«
Er schwieg einen Augenblick und ließ den Blick zum Fenster gleiten, wo sich einige Sonnenstrahlen ihren Weg durch die dichte Wolkendecke bis auf die Fensterbank gebahnt hatten.
»Als ich mich entschloss, ins Kloster zu gehen, war das ein ziemlicher Schock für sie. Ich glaube, sie nimmt es mir bis heute noch ein wenig übel …«
Er brach erneut ab und schluckte schwer. Sven nutzte die Gelegenheit, um in das Gespräch einzugreifen.
»Wann haben Sie Ihre Schwester zum letzten Mal gesehen?«
Der junge Mönch blickte zu Sven hinüber, ohne ihn wirklich zu sehen, und antwortete: »Das war am Sonntag. Sie ist nachmittags vorbeigekommen, und wir waren spazieren, unten am See.« Er schloss die Augen, und seine Lippen bebten. »So wie wir es immer machen«, fügte er dann noch hinzu, und aus seiner Stimme brach die Hoffnungslosigkeit mit Macht hervor.
»Worüber haben Sie geredet? Hat sie irgendwas Merkwürdiges erzählt, das uns vielleicht einen Hinweis auf ihren Tod geben könnte?«, hakte Sven erbarmungslos nach. »Vielleicht hat sie Ihnen ja sogar etwas über den Mann erzählt, dessen Leiche wir ebenfalls in ihrer Wohnung gefunden haben und der bisher noch nicht identifiziert ist.«
Der Abt warf Sven einen erzürnten Blick zu und legte einen Arm schützend um die Schultern von Bruder Andreas.
»Bruder, du musst das jetzt nicht durchstehen, wenn es für dich zu schmerzhaft ist.«
Doch der blonde Mönch sah seinen Abt nur müde an und entgegnete leise: »Doch, ich muss, Bruder Johannes. Ob heute oder morgen, es verliert dadurch sein Grauen nicht, und ich werde es ertragen müssen.«
Er wandte sich wieder an Sven und hob den Blick.
»Sie hat mir tatsächlich von einem neuen Mann in ihrem Leben erzählt. Er hieß Tobias, und sie war seit vier Wochen mit ihm zusammen.«
»Was hat sie sonst noch von ihm erzählt?«
»Nicht viel, sie hat nur Andeutungen gemacht. Irgendetwas hat ihr Sorgen gemacht, aber sie wollte nicht heraus mit der Sprache. Sie sagte nur, dass Tobias ein paar Fehler gemacht habe in seinem Leben, aber dass es ihm Leid tue und dass er ein gutes Herz habe.«
»Sonst nichts? Nichts über einen Jan?«, fragte Sven lauernd.
»Doch, von Jan hat sie auch erzählt. Sie sagte, er wolle nicht wahrhaben, dass sie ihn nicht mehr liebte. Er hat sie ständig verfolgt und wollte sich mit ihrem neuen Freund prügeln.«
»Tatsächlich?!«
Sven machte einen wirklich zufriedenen Eindruck.
»Kannten Sie Jan?«, wollte Thomas wissen.
Bruder Andreas schüttelte den Kopf.
»Nein, sie hat ihn nie mitgebracht. Ihre Besuche bei mir waren uns eigentlich immer zu wichtig, um sie noch mit anderen zu teilen.«
»Und hat Ihre Schwester jemals davon erzählt, dass er gewalttätig war?«
Der Mönch zögerte eine Weile und schien über eine Antwort nachzudenken. Schließlich hob er leicht die Schultern und sagte: »Als sie anfangs mit ihm zusammen war, hat er sie einmal mit ihrem Ex-Freund in einem Café sitzen sehen. Abends in ihrer Wohnung hatten sie dann einen heftigen Streit darüber, in dessen Verlauf er sie geohrfeigt hat.«
»Was hat Ihre Schwester daraufhin getan?«
Bruder Andreas hob überrascht den Blick und sah Thomas an.
»Zurückgeschlagen. Es gab Situationen, in denen sie ganz nach dem Grundsatz Auge um Auge, Zahn um Zahn lebte. Sie hat sich bestimmt nicht von
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