Nichts kann ich mir am besten merken (German Edition)
ändert auch der hochtrabende Name nichts.
Neben den tatsächlichen Freistaaten während der Weimarer Republik, zu denen beispielsweise auch Preußen, Anhalt, Braunschweig, Lippe oder Oldenburg zählten, gab es auch einen kleinen Faker, wie man das heute leicht anglofiziert wohl nennen würde: den Freistaat Flaschenhals. Was wie eine Abspaltung einiger renitenter Entenfamilien in einem Disney-Comic klingt, war von 1919 bis 1923 tatsächlich existent. Und das kam so: Der Versailler Vertrag nach dem Ersten Weltkrieg sah vor, dass die linksrheinischen Gebiete von den Alliierten besetzt werden. Allerdings sollte der Rhein nicht allein die Ostgrenze dieses besetzten Gebiets sein. Um die drei größten Städte, die zudem über Brückenverbindungen verfügten, wurde die Besatzungszone in einem Radius von dreißig Kilometer auch auf rechtsrheinisches Gebiet ausgeweitet. Also ein dreißig Kilometer großer Kreis um Mainz, einer um Koblenz und einer um Köln. Was die Siegermächte damals übersahen: Zwischen dem Mainzer Kreis (französische Besatzungszone) und dem Koblenzer Kreis (amerikanisch) entstand ein knapp dreißig Kilometer langer Korridor, der an seinen schmalsten Stellen nur um die zwei Kilometer maß und von den Alliierten bei Vertragsabschluss schlicht übersehen wurde. Weil die Form an das Oberteil einer Weinflasche erinnerte, erhielt das Gebiet den Spitznamen »Freistaat Flaschenhals«. An der Stelle, wo der Flaschenhals auf das Rheintal traf, lagen mit Lorch und Kaub die beiden größten Orte des Territoriums mit seinen rund 17000 Einwohnern. Die hatten kein leichtes Leben, denn der aus der Not heraus gegründete Freistaat hatte ein Logistikproblem: Im Norden die amerikanischen Besatzer, im Süden die Franzosen. Im Westen begrenzte der Rhein das Gebiet – und im Osten verlor sich der Flaschenhals in bewaldeten Bergen, aus denen keine Straße ins »freie« Deutschland führte. Bis auf einige Rebflächen war das »Staatsgebiet« nahezu komplett waldbestanden. Und hier lag das Problem: Wein macht zwar fröhlich, aber Wald nicht satt, deswegen mussten die Lebensmittel für die Bewohner auf abenteuerliche Weise über die Taunushöhen geschmuggelt werden. Weil man sich darauf eingestellt hatte, dass dieser einigermaßen rechtsfreie Zustand lange andauern würde, begann man neben der Schmuggelei mit dem Druck von Briefmarken und dem Prägen von Münzen.
Auch eigene Pässe waren schon im Umlauf. Als veritabler Zwergstaat trug man sich sogar mit dem Gedanken, in Berlin eine Botschaft zu eröffnen und diplomatische Beziehungen zu anderen Ländern aufzunehmen. Bevor es so weit kam, okkupierten die Franzosen im Zuge der Ruhrbesetzung 1923 auch den Flaschenhals und beendeten die wilden Zeiten sowie den Traum der Stadt Lorch, in einer Reihe mit London, Paris oder Madrid als europäische Hauptstadt genannt zu werden.
Eine ähnliche Räuberpistole hat sich übrigens rund 25 Jahre später im Erzgebirge noch mal abgespielt. Bekanntlich rückten zum Ende des Zweiten Weltkrieges von Osten her sowjetische Truppen nach Deutschland vor, von Westen näherten sich die Amerikaner. Ganz Deutschland war nach der Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai 1945 besetzt. Ganz Deutschland? Nein. 21 Städte und Dörfer, die meisten im Landkreis Schwarzenberg, ein paar auch aus dem Kreis Stollberg, sind der Besetzung (oder offiziellen Befreiung) entgangen. Sechs Wochen lang war das Gebiet sozusagen frei von jeder Herrschaft. Wie konnte es in diesen unheiteren Zeiten zu diesem geschichtlichen Treppenwitz kommen? Eine Version besagt, der Landstrich sei schlicht vergessen worden, eine andere spekuliert darüber, dass die Gegend wegen ihrer reichen Uranvorkommen als Pfand für wichtige Gebietsaustauche in der Hauptstadt Berlin herhalten sollte. Am wahrscheinlichsten ist jedoch die Vermutung, dass die ganze Nummer auf einen dusseligen Irrtum zum Kriegsende zurückzuführen ist: Sowjets und Amerikaner sollen vereinbart haben, dass die US-Truppen bis zur Mulde vorrücken. Dass es sich dabei nicht um eine Delle in der Landschaft handelt, sondern um einen Fluss, war klar. Allerdings wird wohl zu Verwirrungen geführt haben, dass es eine Zwickauer, eine Freiberger und eine aus den beiden vereinigte Mulde gibt. So wird wohl das, was man heute ein Kommunikationsproblem nennt, zu einem Stückchen unbesetztem Deutschland geführt haben. Zum 1. Juli 1945 zogen sich die Amerikaner allerdings vereinbarungsgemäß aus Sachsen zurück und überließen den Sowjets
Weitere Kostenlose Bücher