Nichts, was man fürchten müsste
tot bist, dich zu rekonstruieren. Was, wenn sie deinen Sarg ausgraben und feststellen, du bist ein bisschen zu verwest … Was, wenn du eingeäschert worden bist, und sie können nicht mehr alle Krümel finden … Was, wenn das Staatskomitee für Revivifizierung entscheidet, dass du nicht wichtig genug bist …« Und so immer weiter – bis hin zu dem Szenario, wo du zu einer zweiten Inkarnation zugelassen bist und mitten in der Wiederbelebung steckst, und da lässt eine ungeschickte Krankenschwester ein entscheidendes Reagenzglas fallen, worauf dein sich eben klärender Blick auf ewig vernebelt.
»Der Wunsch eines zukünftigen Toten.« Mein Bruder merkt sarkastisch an, dummerweise seien »alle unsere Wünsche die Wünsche zukünftiger Toter«. Trotzdem, man kann’s ja mal probieren – also ja, Beerdigung. Besuchen Sie mich, kratzen Sie mit dem Schlüssel Ihres Leihwagens die Flechten von meinem Namen und beantragen Sie dann eine säkulare Auferstehung aus einem DNA – Klumpen für mich, aber erst – ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, dass ich darauf bestehe – wenn das Verfahren technisch wirklich ausgereift ist. Dann werden wir ja sehen, ob mein Bewusstsein dasselbe ist wie beim ersten Mal, ob ich irgendeine Erinnerung an dieses vorherige Leben habe (diesen Satz als meinen eigenen erkenne) und ob ich mich an die nächstbeste Schreibmaschine setze und eifrig-erregt dieselben Bücher noch einmal hervorbringe – was dann, von allem anderen abgesehen, einige interessante Copyright-Probleme aufwerfen wird.
Nein, das ist alles ziemlich abwegig. Ich weiß, man hat schon Fleischbrocken von zottigen Mammuts aus dem Permafrostboden ausgegraben und will so ein stoßzahnbewehrtes Trumm im Labor wieder neu züchten. Aber ich kann mir vorstellen, dass Anträge von Romanschriftstellern auf jeder Warteliste ziemlich weit unten landen (vielleicht wollen sich Autoren die Wiederbelebung in Zukunft vertraglich zusichern lassen, ähnlich der Klausel, dass ihre Bücher auf säurefreiem Papier gedruckt werden). Da bleibt man lieber bei dem Entweder/Oder des französischen Staats: Entweder man ist lebendig, oder man ist tot, und dazwischen gibt es nichts. Lieber ein endgültiges Adieu als ein au revoir mit einer Chance von eins zu einer Billion. Man sagt mit Daudet: »Lebe wohl Frau … Familie, die Dinge meines Herzens.« Und dann: »Lebe wohl Ich, heiß geliebtes Ich, nunmehr so vage, so verschwommen.« Das wäre doch weiser, nicht wahr?
Weisheit zeigt sich auch darin, dass man sich nichts mehr vormacht, nicht mehr zu Tricks und Finten greift. Rossini schrieb seine Petite Messe solennelle nach einem achtunddreißig Jahre währenden Ruhestand. Seine späten Werke nannte er seine »Alterssünden« und die Messe »die letzte dieser Sünden«. Unter das Manuskript setzte er eine französische Widmung: »Lieber Gott, nun ist sie endlich fertiggestellt, meine kleine feierliche Messe. Habe ich wirklich geistliche Musik geschrieben oder nur dummes Zeug wie sonst auch? Du weißt sehr wohl, dass ich für die Opera buffa geschaffen bin. Das verlangt keine großen Fähigkeiten, dazu reicht im Grunde ein bisschen Gefühl. Also, Ehre sei Gott, und bitte lass mich ins Paradies kommen. G. Rossini, Passy 1863 .«
Diese Widmung zeugt von kindlicher Hoffnung. Und es ist ungeheuer rührend, wenn sich ein Künstler im hohen Alter als einfältig hinstellt. Der Künstler sagt: Pomp und Bravour sind Tricks für die Jugend, und ja, keine Ambitionen ohne Angeberei; aber jetzt sind wir alt und sollten genügend Selbstvertrauen haben, um uns schlicht auszudrücken. So mag ein religiöser Mensch wieder zum Kind werden, damit er in den Himmel kommt; ein Künstler will so weise und gelassen werden, dass er sich nicht mehr zu verstecken braucht. Sind diese extravaganten Schnörkel in der Partitur, diese Tupfen auf der Leinwand, diese überschwänglichen Adjektive wirklich alle nötig? Das ist nicht nur Demut im Angesicht der Ewigkeit; es gehört auch ein ganzes Leben dazu, schlichte Dinge zu sehen und zu sagen.
»Weise.« Altersgenossen sagen manchmal ganz erstaunt zu mir: »Komisch, ich fühle mich überhaupt nicht älter.« Ich jedenfalls schon, und falls ich noch Zweifel habe, kann ich ganz nüchterne Berechnungen anstellen, wenn ich etwa einen frühreifen Zwölfjährigen mit einer Zigarette in der Hand vor dem Schultor herumlungern sehe. Ich kann darüber nachsinnen, dass ich als Sechzigjähriger im Jahre 2006 dem ältesten noch lebenden
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