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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg altersmäßig näher bin als diesem Jungen. Fühle ich mich weiser? Ja, ein bisschen; auf jeden Fall weniger töricht (und vielleicht so weise, dass ich den Verlust man cher Torheiten beklagen kann). Weise genug, um schlicht zu sein? Bei Gott, noch nicht ganz.
    Weisheit ist doch der redliche Lohn dafür, dass man das Wirken von Herz und Verstand des Menschen geduldig betrachtet, die Erfahrungen verarbeitet hat und so zu einem Verständnis des Lebens gelangt ist – oder nicht? Nun, dazu hat Sherwin Nuland, der weise Thanatologe, ein Wörtchen zu sagen. Wollen Sie die gute oder die schlechte Nachricht zuerst hören? Es ist taktisch klug, immer die gute Nachricht zu wählen – vielleicht stirbt man ja, bevor man die schlechte hört. Die gute Nachricht ist, dass wir manchmal tatsächlich an Weisheit zunehmen, wenn wir älter werden. Und jetzt kommt die (längere) schlechte Nachricht. Wie wir nur allzu gut wissen, verschleißt unser Gehirn. Die einzelnen Bestandteile können sich noch so hektisch erneuern, die Gehirnzellen sind (genau wie der Herzmuskel) nur begrenzt haltbar. Nach dem fünfzigsten Lebensjahr verliert das Gehirn alle zehn Jahre zwei Prozent seines Gewichts; außerdem nimmt es einen gelblichen Farbton an – »selbst der Alterungsprozess ist farblich kodiert«. Der motorische Cortex verliert zwanzig bis fünfzig Prozent seiner Neuronen, der visuelle Cortex fünfzig Prozent und der somatosensorische etwa gleich viel. Nein, das ist noch nicht die schlechte Nachricht. Die schlechte Nachricht versteckt sich in einer relativ guten – dass nämlich die höheren intellektuellen Gehirnfunktionen viel weniger von diesem umfassenden Zellsterben betroffen sind. Ja, »gewisse kortikale Neuronen« nehmen im reifen Alter offenbar noch zu, und es gibt sogar Hinweise darauf, dass die astartigen Fortsätze – die Dendriten – vieler Neuronen bei nicht an Alzheimer leidenden alten Menschen weiterhin wachsen (wer Alzheimer hat, kann das allerdings vergessen). Damit haben »Neurophysiologen vielleicht die eigentliche Quelle dessen entdeckt, was wir mit zunehmendem Alter an Weisheit meinen ansammeln zu können«. Man wäge dieses »meinen ansammeln zu können« und verfalle in tiefe Trauer. Ein Freund, der sich ab und zu bei mir ausspricht, hat mir den Spitznamen »Das Beratungszentrum« gegeben – ein Etikett, das mir selbst unter Berücksichtigung der Ironie absurde Freude bereitet. Doch jetzt stellt sich heraus, dass mir einfach nur diese Büschel von astartigen Fortsätzen gewachsen sind – wofür ich gar nichts kann.
    Weisheit, Philosophie, heitere Gelassenheit: Ob man damit gegen eine Todesangst ankommt, die auf einer Skala von eins bis zehn bei elf angesiedelt ist? Nehmen wir Goethe zum Beispiel. Einer der weisesten Männer seiner Zeit, mit über achtzig noch im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte, bei ausgezeichneter Gesundheit und weltweit berühmt. Der Idee eines Weiterlebens nach dem Tod stand er immer eindrucksvoll skeptisch gegenüber. Das Nachdenken über die Unsterblichkeit galt ihm als eine Beschäftigung für müßige Geister und der Glaube daran als übertriebene Selbstherrlichkeit. Er ergötzte sich an der praktischen Überlegung, er werde sich natürlich freuen, falls er nach diesem Leben entdecken sollte, dass es noch ein anderes gebe; er hoffe aber inständig, dort nicht all die Langweiler wiederzutreffen, die ihre Zeit hier auf Erden mit der Verkündung ihres Glaubens an die Unsterblichkeit zugebracht hätten. Ihr triumphierendes »Ich hab’s ja gewusst! Ich hab’s ja gewusst!« wäre ihm im nächsten Leben noch unerträglicher als schon in diesem.
    Was könnte vernünftiger und weiser sein? Und so arbeitete Goethe weiter bis ins hohe Alter und schloss im Sommer 1831 den zweiten Teil des Faust ab. Neun Monate später wurde er krank und legte sich ins Bett. An seinem letzten Tag hatte er furchtbare Schmerzen, malte aber selbst nach Verlust des Sprachvermögens noch Buchstaben auf die Decke über seinen Knien (wobei er weiterhin sorgfältig auf die Interpunktion achtete – ein wunderbares Beispiel dafür, wie sich jemand im Sterben treu bleibt). Seine Freunde behaupteten aus alter Treue, er sei einen erhabenen, ja christlichen Tod gestorben. In Wahrheit war Goethe, wie das Tagebuch seines Arztes verrät, »von entsetzlicher Angst und Unruhe beherrscht«. Der Grund für das »Grauen« dieses letzten Tages lag für den Arzt klar auf der Hand: Goethe, der

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