Nichts, was man fürchten müsste
Angaben waren gemacht, die Unterschriften geleistet, die Duplikate ausgehändigt, und ich wollte schon gehen, als sie plötzlich in unbewegtem Ton fünf herzlose und überflüssige Wörter von sich gab: »Damit ist die Beurkundung abgeschlossen.« Sie sprach genauso mechanisch wie die roboterhaften Bosse der Football Association, wenn sie die letzte Elfenbeinkugel aus dem Samtbeutel geholt haben und verkünden: »Damit ist die Ziehung für das Viertelfinale des FA Cup abgeschlossen .«
Und damit ist auch die Folklore meiner Familie abgeschlossen. Ich persönlich hätte gern etwas mehr. Ich hätte nichts dagegen, wenn Sie an meinem Sterbebett stünden – ein freundliches Gesicht wäre mir willkommen, auch wenn ich kaum glaube, dass in einem personell unterbesetzten Krankenhaus um zwei Uhr morgens eins zur Verfügung steht. Ich erwarte nicht, dass man nach meinem Tod Türen und Fenster offen hält, schon aus dem Grund, dass die Versicherung dann im Falle eines Einbruchs wahrscheinlich nicht zahlen will. Aber gegen so einen Grabstein hätte ich nichts einzuwenden. Jules Renard ging in seinem letzten Lebensjahr, als er wusste, dass er unheilbar krank war, oft auf Friedhöfe. Eines Tages besuchte er das Grab der Brüder Goncourt auf dem Montmartre. Der jüngere Bruder war dort 1870 beerdigt worden, 1896 dann der ältere, Edmond, nachdem ihn der todesfürchtige Zola in seiner Grabrede überschwänglich gepriesen hatte. Renard notiert in seinen Tagebüchern, die Brüder hätten es aus literarischem Stolz verschmäht, auf dem Grabstein ihren Beruf zu erwähnen. »Zwei Namen, zwei Datumsangaben, das fanden sie genug. Hé! hé! «, kommentiert Renard mit der kuriosen französischen Transkription eines gackernden Lachens. »Darauf ist doch kein Verlass.« Aber war diese Schlichtheit ein Zeichen der Eitelkeit – der Unterstellung, jeder würde wissen, wer sie waren – oder des genauen Gegenteils, einer schicklichen Vermeidung von Prahlerei? Vielleicht auch der nüchternen Erkenntnis, dass es keine Garantie für den Namen eines Schriftstellers gibt, sobald er in die Geschichte entlassen ist? Ich frage mich, was wohl auf Renards Grab steht.
»Sie und ich werden wahrscheinlich im Krankenhaus sterben.« Ein törichter Satz, auch wenn die statistische Wahrscheinlichkeit dafür spricht. Zum Glück ist uns verborgen, wo und wie schnell wir einmal sterben. Wer sich auf etwas Bestimmtes einstellt, bekommt womöglich etwas anderes. Am 21 . Februar 1908 schrieb Renard: »Morgen bin ich vierundvierzig. Das ist kein hohes Alter. Mit fünfundvierzig muss man dann anfangen nachzudenken. Vierundvierzig ist ein Jahr, in dem man auf Samt gebettet ist.« An seinem eigentlichen Geburtstag war er ein wenig nüchterner: »Vierundvierzig – ein Alter, in dem man die Hoffnung aufgeben muss, seine Jahre zu verdoppeln.«
Das Eingeständnis, es vielleicht nicht bis achtundachtzig zu schaffen, wirkt eher wie eine moderate Rechnung als wie eine Kampfansage. Doch im folgenden Jahr hatte sich Renards Gesundheitszustand so weit verschlechtert, dass er nicht mehr von einem Ende der Tuilerien zum anderen gehen konnte, ohne sich zu einem Plausch mit den alten Frauen hinzusetzen, die dort Maiglöckchen verkauften. »Ich muss wohl mit Aufzeichnungen über meine alten Tage beginnen«, folgerte er und schrieb trübsinnig an einen Freund: »Ich bin jetzt fünfundvierzig – für einen Baum wäre das kein Alter.« Einst hatte er Gott gebeten, ihn nicht zu rasch sterben zu lassen, da er den Prozess gern beobachten würde. Wie viel Beobachtung meinte er nun zu brauchen? Er brachte es auf sechsundvierzig Jahre und drei Monate.
Als seine Mutter rücklings in den Brunnen fiel und dabei »den leichten Wirbel« hervorrief, den »jeder kennt, der einmal ein Tier ertränkt hat«, war sein Kommentar: »Der Tod ist kein Künstler.« Der Tod hat bestenfalls kunsthandwerkliche Tugenden zu bieten: Fleiß, beharrlichen Einsatz und einen Widerspruchsgeist, der sich gelegentlich zu Ironie aufschwingt; aber es fehlt ihm an Raffinesse und Doppelsinn, und bei ihm gibt es mehr Wiederholungen als in einer Bruckner-Symphonie. Allerdings ist er örtlich absolut flexibel und verfügt über eine hübsche Phalanx von Gebräuchen und abergläubischen Vorstellungen – die gehen jedoch nicht auf sein Konto, sondern auf unseres. Renard notierte ein Detail, das meiner folkloristisch verarmten Familie mit Sicherheit unbekannt war: »Wenn der Tod naht, riecht man nach Fisch.« Da heißt
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