Nichts, was man fürchten müsste
Wissenschaftler Laborexperimente mit Ratten, Labyrinthen und Käsestückchen hinter der richtigen Tür veranstalten, so könnte auch Gott ein Experiment veranstaltet haben, und die Ratte sind wir. Unsere Aufgabe besteht darin, die Tür zu finden, hinter der sich das ewige Leben verbirgt. Bei einem möglichen Ausgang hören wir ferne Sphärenklänge, bei einem anderen riechen wir einen Hauch von Weihrauch; um einen dritten schimmert ein goldener Lichtschein. Wir drücken gegen all diese Türen, doch keine davon geht auf. Immer hektischer – denn wir wissen ja, dass wir in einer raffinierten Kiste stecken, die Sterblichkeit heißt – versuchen wir zu entkommen. Nur begreifen wir nicht, dass der Sinn des Experiments gerade unser Nichtentkommen ist. Es gibt viele falsche Türen, aber keine richtige, weil es kein ewiges Leben gibt. Das Spiel, das Gott der Ironiker sich ausgedacht hat, geht so: Man pflanze einem unwürdigen Geschöpf die Sehnsucht nach Unsterblichkeit ein und warte, was dann passiert. Man sehe zu, wie diese mit Bewusstsein und Intelligenz belasteten Menschen herumrennen wie wild gewordene Ratten. Man schaue sich an, wie eine Gruppe von ihnen alle anderen belehrt, ihre Tür (die sie nicht mal selbst aufmachen kann) sei die einzig richtige, und dann vielleicht jeden umbringt, der auf eine andere setzen will. Wär das nicht lustig?
Der experimentierfreudige, ironische, Spielchen spielende Gott. Warum nicht? Wenn Gott den Menschen oder der Mensch Gott nach seinem jeweiligen Ebenbild erschaffen hat, dann muss es bei einem homo ludens auch einen deus ludens geben. Und das andere Lieblingsspiel, das er uns spielen lässt, heißt »Gibt es einen Gott?« Er liefert uns verschiedene Hinweise und Argumente, macht Andeutungen, setzt auf beiden Seiten agents provocateurs ein (hat dieser Voltaire seine Sache nicht gut gemacht?); dann lehnt er sich mit einem seligen Lächeln im Gesicht zurück und schaut zu, wie wir versuchen, daraus schlau zu werden. Und glauben Sie ja nicht, eine schnelle und feige Anerkennung – Ja, Gott, wir wussten von Anfang an, dass du da bist, das brauchte uns niemand erst zu sagen, du bist unser Mann! – würde bei dem Burschen ziehen. Wenn Gott wirklich Stil hätte, fände wahrscheinlich Jules Renard seinen Beifall. Einige Gläubige verwechselten Renards typisch französischen Antiklerikalismus mit Atheismus. Dem hielt er entgegen:
Ihr sagt, ich sei ein Atheist, weil nicht jeder von uns Gott auf dieselbe Art sucht. Vielmehr glaubt ihr, ihr hättet ihn gefunden. Herzlichen Glückwunsch. Ich suche ihn noch. Und ich werde noch zehn oder zwanzig Jahre weitersu chen, wenn er mich so lange leben lässt. Ich fürchte, ich werde ihn nicht finden, aber ich suche trotzdem weiter. Vielleicht ist er dankbar für meine Mühen. Und vielleicht dauert ihn eure selbstgefällige Zuversicht und euer müßi ger, einfältiger Glaube.
Das Gottesspiel und das Todeslabyrinth gehören natürlich zusammen. Sie bilden ein dreidimensionales Puzzle von der Art, das manche Leute reizvoll finden, wenn sie das simple Schachspiel leid sind. Gott, das vertikale Spiel, überschneidet sich mit dem Tod, dem horizontalen Spiel, und heraus kommt das größte Puzzle, das man sich denken kann. Wir jagen kreischend Leitern hoch, die mitten in der Luft aufhören, und rennen um Ecken, die nur in Sackgassen führen. Kommt uns das bekannt vor? Man könnte fast meinen, Gott – diese Art von Gott – hätte Renards Tagebucheintrag gelesen: »Und ich werde noch zehn oder zwanzig Jahre weitersuchen, wenn er mich so lange leben lässt.« Was für eine Vermessenheit! Also ließ Gott ihn noch sechseinhalb Jahre leben: weder knickerig noch allzu generös; sondern in etwa angemessen. Das heißt angemessen in Gottes Augen.
Wenn ich als Mensch den Tod fürchte und in meinem Beruf als Schriftsteller auch die gegenteilige Sicht darstellen will, sollte ich lernen, zugunsten des Todes zu argumentieren. Dazu kann man zum Beispiel die Alternative – ewiges Leben – als nicht erstrebenswert hinstellen. Natürlich haben andere das auch schon versucht. Das ist wieder so ein Problem mit dem Tod: Fast alles haben andere auch schon versucht. Swift hatte seine Struldbruggs, die mit einem roten Fleck auf der Stirn geboren wurden; Shaw in Zurück zu Methusalem seine Langlebigen, die aus Eiern schlüpfen und mit vier Jahren erwachsen sind. In beiden Fällen wird die Gabe der Ewigkeit zur Last, das unendlich weitergehende Leben läuft ins Leere,
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