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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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weise Goethe, der Mann, der für alles einen klaren Blick hatte, konnte der Furcht nicht entgehen, die Sherwin Nuland uns voraussagt.

    Turgenew hatte diese kleine Handbewegung, die das unerträgliche Thema in einem slawischen Nebel verschwinden ließ. Heutzutage sind die Handbewegung wie der Nebel pharmazeutisch zu haben. Als meine Mutter ihren ersten Schlaganfall hatte, stopften sie die Ärzte routinemäßig – und ohne ihrer Familie etwas davon zu sagen – mit Antidepressiva voll. Darum war sie zwar wütend und zutiefst frustriert und bisweilen »vollkommen gaga«, aber wahrscheinlich nicht deprimiert. Mein Vater, der ihr auf diesem Weg vorangegangen war, kam mir oft deprimiert vor und vergrub häufig den Kopf in den Händen. Ich hielt das für eine logische und natürliche Reaktion in Anbetracht a) dessen, was ihm zugestoßen war, b) seiner Veranlagung und c) der Tatsache, dass er mit meiner Mutter verheiratet war. Vielleicht entwickelt die Medizin irgendwann ein Verfahren, mit dem sich der Teil des Gehirns beherrschen lässt, der über seinen eigenen Tod nachdenkt. Dann könnten wir wie bei dem patientengesteuerten Morphiumtropf unsere Todesstimmung und Todesgefühle per Knopfdruck selbst regulieren. Nichtwahrhabenwollen klick Zorn klick klick Verhandeln – ah, das ist schon besser. Und vielleicht können wir uns auch über die bloße Akzeptanz (»Ach, hier bin ich auf meinem Sterbebett – hier bin ich nun also«) hinaus bis zum Einverständnis durchklicken: Dann sehen wir das alles als vernünftig, natürlich und sogar erstrebenswert an. Wir finden Trost in dem Gesetz von der Erhaltung der Energie, in dem Wissen, dass im Weltall nichts verloren geht. Wir sind dankbar für unser glückliches Leben, wo doch so viele Billionen und Aberbillionen potenzieller Menschen ungeboren blieben. Wir sehen ein, dass Reifsein alles ist, und betrachten uns als eine Frucht, die glücklich vom Ast fällt, eine Ernte, die sich heiter und gelassen einbringen lässt. Wir sind stolz, dass wir anderen Platz machen können, wie andere für uns Platz gemacht haben. Wir finden das mittelalterliche Bild von dem Vogel, der in einen hell erleuchteten Saal hinein- und auf der anderen Seite wieder hinausfliegt, überzeugend und trostreich. Was könnte uns als einem sterbenden Tier schließlich nützlicher sein? Willkommen auf der Euphoriestation.
    Sie und ich werden wahrscheinlich im Krankenhaus sterben: ein moderner Tod mit wenig folkloristischem Drumherum. In Chitry-les-Mines pflegten die Bauern das Stroh aus der Matratze eines Toten zu verbrennen, den Stoffbezug aber aufzubewahren. Als Strawinski starb, sorgte seine Witwe Vera dafür, dass sämtliche Spiegel im Zimmer verhängt wurden; außerdem vermied sie es, seinen Leichnam zu berühren, da sie glaubte, dass die Seele noch vierzig Tage darin weiterlebt. In vielen Kulturen wurden Fenster und Türen geöffnet, damit die Seele ungehindert hinausfliegen konnte; aus demselben Grund stellte man sich nicht vor einen Sterbenden oder beugte sich über ihn. Das Sterben im Krankenhaus hat diese Bräuche abgeschafft. Statt Folklore haben wir jetzt ein bürokratisches Prozedere.
    An der Tür des Standesamts von Witney stand ANKLOP FEN UND WARTEN . Während meine Mutter und ich dort warteten, kam ein quietschvergnügtes Pärchen aus der Abteilung für Eheschließungen den Flur entlang. Die Standesbeamtin war Ende dreißig, hatte zwei Cabbage-Patch-Puppen an der Wand hängen und ein dickes Taschenbuch von Maeve Binchy neben sich liegen. Meine Mutter erkannte sie als Leserin und bemerkte, ihr Sohn sei ebenfalls Schriftsteller (ich starb einen kleinen Tod): »Julian Barnes, vielleicht kennen Sie ihn?« Die Standesbeamtin kannte ihn jedoch nicht; dafür fanden wir eine gemeinsame literarische Ebene mit einer Diskussion über die Fernsehbearbeitung von Melvyn Braggs A Time to Dance. Es folgten die Fragen und das stumme Ausfüllen der Formulare. Ganz zum Schluss gewann die Beamtin, ohne es zu wissen, die Sympathie meiner Mutter. Ma beugte sich vor, um die Sterbeurkunde ihres Mannes zu unterzeichnen, und die Beamtin rief aus: »Oh, Ihre Fingernägel sind ja perfekt gepflegt!« Wie sie es immer waren. Ihre Fingernägel: Darum hoffte sie, eher taub als blind zu werden.
    Als ich fünf Jahre später den Tod meiner Mutter beurkunden ließ, saß da eine andere Frau, die wie ein Metronom redete und nicht die Fähigkeit – oder das Glück – hatte, einen zwischenmenschlichen Kontakt herzustellen. Alle

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