Nichts, was man fürchten müsste
und sein Besitzer – oder Erdulder – sehnt sich nach der Wohltat des Todes, die ihm grausam versagt bleibt. Das scheint mir eine verzerrte und propagandistische Darstellung zu sein, die den Sterblichen allzu offensichtlich zum Trost gereichen soll. Meine Hausärztin weist mich auf eine subtilere Version hin, Zbigniew Herberts Gedicht über Herrn Cogito und die Langlebigkeit. Herr Cogito möchte die »Schönheit der Vergänglichkeit« preisen; er ist froh über seine Falten, lehnt lebensverlängernde Elixiere ab, freut sich, wenn sein Gedächtnis ihn im Stich lässt, denn die Erinnerungen haben ihn gepeinigt – mit einem Wort, die Unsterblichkeit hat ihn von Kindheit an in bebende Furcht versetzt. Worum sollte man die Götter beneiden, fragt Herbert und antwortet sarkastisch: um himmlische Zugluft, eine stümperhafte Verwaltung, unersättliche Lust, ein gewaltiges Gähnen.
Diese Einstellung hat ihren Reiz, auch wenn die meisten von uns denken, die Verwaltungstätigkeit auf dem Olymp ließe sich ja verbessern, und sich von himmlischer Zugluft oder ein bisschen mehr Lustbefriedigung nicht allzu gelangweilt fühlen würden. Doch die Kritik an der Ewigkeit ist – zwangsläufig – eine Kritik am Leben oder zumindest ein Loblied auf seine Vergänglichkeit und Ausdruck der Erleichterung darüber. Das Leben bringt viel Schmerz, Leid und Angst mit sich, während der Tod uns von alldem befreit. Die Zeit, sagt Herbert, dient der Ewigkeit dazu, uns Gnade zu erweisen. Man stelle sich vor, das alles ginge unaufhörlich so weiter: Wer würde da nicht um ein Ende beten? Das fand Jules Renard auch: »Man stelle sich ein Leben ohne den Tod vor. Vor lauter Verzweiflung würde man sich tagtäglich umbringen wollen.«
Wenn wir das Problem der ewig währenden Ewigkeit (das sich, wie ich glaube, lösen ließe – es braucht nur ein wenig Zeit) einmal beiseitelassen, dann liegt ein Reiz des altmodischen, von Gott arrangierten Überlebens des Todes – von dem offenkundigen, spektakulären Reiz des Nicht-Sterbens abgesehen – in unserem untergründigen Verlangen und Bedürfnis nach einem Urteil. Das macht sicher eine wesentliche Anziehungskraft der Religion aus – und ihren Reiz für Wittgenstein. Wir sehen uns und andere im Laufe unseres Lebens immer nur partiell und werden umgekehrt nur partiell von anderen gesehen. Wenn wir uns verlieben, hoffen wir – aus egoistischen wie altruistischen Gründen –, endlich wahrhaft gesehen zu werden: gewogen und für gut befunden. Natürlich bringt die Liebe nicht immer Beifall mit sich: Wer gesehen wird, kann sich auch einen gesenkten Daumen und eine Zeit in der Hölle einhandeln (das Problem – und das Paradox – liegt darin, dass der Liebhaber genügend Urteilsvermögen hat, um sich eine Geliebte mit einem entsprechenden Urteilsvermögen auszusuchen, das sie den Liebhaber beifällig beurteilen lässt). In den alten Tagen konnten wir uns damit trösten, dass menschliche Liebe, wie kurzlebig und unvollkommen sie auch sein mag, nur ein Vorgeschmack auf das Wunder und die vollkommene Einsicht göttlicher Liebe ist. Jetzt ist sie alles, was wir haben, und wir müssen uns mit unserem Statusverlust abfinden. Doch wir sehnen uns weiterhin nach dem Trost und der Wahrheit, vollständig gesehen zu werden. Das wäre doch ein schönes Ende, nicht wahr?
Also bitten wir vielleicht nur um das Gericht und überspringen das ganze Theater mit dem Himmel – in dem dann womöglich dieser vorwurfsvolle Gott aus Renards Fantasie sitzt: »Ihr seid schließlich nicht zum Vergnügen hier!« Vielleicht brauchen wir gar nicht das ganze Paket. Man kann sich nämlich – mögliches Gottes-Szenario Nummer 16 b – mal kurz vorstellen, wie jeder vernünftige Gott auf das Dossier unseres Lebens reagieren würde. »Hör mal«, könnte er sagen, »ich habe die Akte studiert und mir das Plädoyer deines hervorragenden göttlichen Anwalts angehört. Du hast sicher versucht, dein Bestes zu geben (übrigens habe ich dir tatsächlich Willensfreiheit gewährt, egal, was diese Provokateure dir erzählt haben). Du warst ein gehorsames Kind und ein guter Vater beziehungsweise eine gute Mutter, du hast für wohltätige Organisationen gespendet und einem blinden Hund über die Straße geholfen. Du hast dich so gut gemacht, wie man das von einem Menschen nur erwarten kann, wenn man bedenkt, aus welchem Material du erschaffen wurdest. Du möchtest gesehen und für gut befunden werden? Da, ich drücke meinen
Weitere Kostenlose Bücher