Nichts, was man fürchten müsste
GESEHEN-&-FÜR-GUT-BEFUNDEN – Stempel auf dein Leben, deine Akte und deine Stirn. Aber mal ehrlich: Meinst du wirklich, du hast als Lohn für dein menschliches Dasein das ewige Leben verdient? Findest du nicht auch, dann hättest du mit einem mickerigen Einsatz von fünf zig bis hundert Jahren einen üppigen Jackpot gewonnen? Somerset Maugham hatte wohl leider recht, als er sagte, deine Spezies sei dafür nicht geschaffen.«
Dem kann man wenig entgegensetzen. Vielleicht lässt sich mit der Langweiligkeit der Ewigkeit und der Mühsal des Lebens schlecht argumentieren, aber das Argument der Unwürdigkeit bleibt überzeugend. Selbst wenn wir von einer gnädigen, um nicht zu sagen sentimentalen Gottheit ausgehen – können wir wirklich objektiv behaupten, es hätte viel Sinn, uns bis in alle Zeiten zu erhalten? Die eine oder andere Ausnahme könnte durchaus schmeichelhaft sein – Shakespeare, Mozart, Aristoteles dort hinüber, hinter die samtene Kordel, alle anderen hier die Falltür runter –, aber es würde doch nicht viel bringen. Das Leben schert alle über einen Kamm und lässt auch nicht mit sich handeln.
Die Asche meiner Eltern wurde von den Winden an der französischen Atlantikküste verweht; meine Großeltern wurden im Krematorium verstreut, sofern man sie nicht in einer Urne aufbewahrt und dann irgendwo vergessen hat. Ich habe nie das Grab irgendeines Angehörigen besucht und glaube auch nicht, dass ich das je tun werde, es sei denn, mein Bruder verpflichtet mich dazu (er will in seinem Garten begraben werden, in Hörweite der grasenden Lamas). Dafür habe ich die Gräber verschiedener Verwandter im Geiste besucht: Flaubert, Georges Brassens, Ford Madox Ford, Strawinski, Camus, George Sand, Toulouse-Lautrec, Evelyn Waugh, Degas, Jane Austen, Braque … Manchmal waren sie nicht leicht zu finden, und kaum je gab es ein Gedränge an oder eine Blume auf ihrem Grab. Camus hätte ich gar nicht entdeckt, wenn nicht seine Frau in einer besser gepflegten Grabstelle neben ihm gelegen hätte. Ford konnte ich erst nach eineinhalb Stunden auf einem riesigen Friedhof auf einer Klippe über Deauville aufspüren. Als ich die niedrige, schlichte Grabplatte endlich gefunden hatte, waren Name und Daten darauf kaum noch zu entziffern. Ich hockte mich hin und säuberte die gemeißelte, von Flechten überwucherte Inschrift mit den Schlüsseln meines Leihwagens, kratzte und schabte daran herum, bis der Name des Schriftstellers wieder klar hervortrat. Klar und doch seltsam: Ob der französische Steinmetz keine richtigen Zwischenräume gelassen hatte oder meine Putzarbeiten schuld waren – jedenfalls schien der dreiteilige Name jetzt anders gegliedert. Er fing richtig mit FORD an, ging aber mit MAD OXFORD weiter. Vielleicht wurde meine Wahrnehmung davon beeinträchtigt, dass Lowell den englischen Schriftsteller einmal als einen »schreibwütigen alten Mann« bezeichnet hatte.
Ich würde mich gern zu einem schreibwütigen alten Mann entwickeln (obwohl ich das nach manchen bürokratischen Berechnungen ja schon bin) und hätte auch nichts gegen Besucher. Mir gefällt die Vorstellung – ein Verlangen, das mein Bruder wohl als falsch beanstanden würde, da es der zukünftige Wunsch eines Toten oder der Wunsch eines zukünftigen Toten ist –, dass jemand eins meiner Bücher liest und daraufhin mein Grab ausfindig macht. Das ist vor allem literarische Eitelkeit, doch dahinter verbirgt sich ein primitiver Aberglaube. Es ist nicht leicht, sich ganz von der Erinnerung an Gott, der Fantasie eines Gottesurteils (solange es fair – das heißt zutiefst nachsichtig ist) und dem hoffnungsvollen, hoffnungslosen Traum zu befreien, letztendlich habe alles doch noch irgendeinen göttlichen Sinn, und ebenso schwer ist es, ständig an dem Wissen festzuhalten, dass der Tod endgültig ist. Der Verstand sucht trotzdem nach einem Schlupfloch aus der Kiste der Sterblichkeit, lässt sich trotzdem von ein bisschen Science-Fiction verlocken. Und wenn es keinen hilfreichen Gott mehr gibt und das Einfrieren von Toten dazu führt, dass ein trauriger alter Mann neben einem lecken Kühlschrank hockt und auf das glückliche Ende einer Tragödie hofft, dann müssen wir uns anderswo umsehen. In meinem ersten Roman erwägt der (zuweilen allzu überzeugend autobiografische) Erzähler die Möglichkeit, sich sozusagen klonen zu lassen. Er stellt sich das naturgemäß so vor, dass die Sache schiefgeht. »Angenommen, die finden einen Weg, auch wenn du schon
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