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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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nicht mit Medikamenten vollgepumpt gewesen wäre, hätte er getobt. Er hatte so furchtbare Angst.« Um 1 Uhr 24 nachts, einer typischen Sterbezeit, sagte er seine letzten Worte zu einer Krankenschwester, die seine Hand hielt: »Ich gehe zum Unvermeidlichen.« Larkin war sicher nicht frankophil (wenn auch kosmopolitischer, als er sich den Anschein gab); aber wenn man wollte, könnte man darin eine Anspielung auf und eine Korrektur an Rabelais’ angeblichem Ausspruch auf dem Totenbett sehen: »Ich gehe dahin und suche ein großes Vielleicht.«
    Larkins Tod kann nur entmutigend wirken. Der Blick in die Grube führte nicht zu ruhiger Gelassenheit, sondern zu vermehrtem Entsetzen; und obwohl er den Tod fürchtete, starb er nicht elegant. Starb Renard elegant? Die Diskretion französischer Biografien verhindert nähere Einzelheiten; ein Freund, Daudets Sohn Léon, schrieb jedoch, er habe während seiner letzten Krankheit eine »wunderbare Tapferkeit« bewiesen. Daudet zieht daraus den Schluss: »Gute Schriftsteller und gute Soldaten wissen zu sterben, während Politiker und Ärzte Angst vor dem Tod haben. Man braucht sich nur umzuschauen, um diesen Satz bestätigt zu sehen. Natürlich gibt es auch Ausnahmen.«
    Das alte Argument, wie Renard es in jungen und gesunden Tagen formulierte: »Der Tod ist süß; er erlöst uns von der Todesangst.« Ist das etwa kein Trost? Nein, es ist ein Sophismus. Besser gesagt, wieder ein Beweis dafür, dass man den Tod und seine Schrecken mit Logik und rationalen Argumenten allein nicht besiegen kann.

    Wenn wir tot sind, wachsen Haare und Fingernägel noch eine Weile gespenstisch weiter. Das weiß jeder. Ich habe es immer geglaubt oder halbwegs geglaubt oder doch halbwegs angenommen, es müsse schon »etwas dran sein«: Nicht dass wir uns im Sarg in einen Struwwelpeter mit vampirhaften Fingernägeln verwandeln, aber vielleicht, nun ja, ein, zwei Millimeter mehr an Haaren und Nägeln. Doch was »jeder weiß«, ist gemeinhin falsch, wenn nicht ganz, so doch zum Teil. Wie mein freundlicher Thanatologe Sherwin Nuland erklärt, ist die Sache einfach und unbestreitbar. Wenn wir sterben, hören wir auf zu atmen; keine Luft, kein Blut; kein Blut, kein mögliches Wachstum. Vielleicht gibt es nach dem Herzstillstand noch ein kurzes Flackern von Hirntätigkeit, aber das ist auch alles. Womöglich entspringt dieser spezielle Mythos unserer Furcht davor, lebendig begraben zu werden. Oder er gründet sich auf eine redliche, aber falsche Wahrnehmung. Wenn der Körper nach dem Tod zu schrumpfen scheint – ja, tatsächlich schrumpft –, dann zieht sich unter Umständen das Fleisch an den Fingern zurück und schafft so die Illusion, die Nägel seien gewachsen; und wenn das Gesicht kleiner erscheint, wirkt es so, als seien die Haare länger geworden.
    Wie man sich täuschen kann: ein Irrtum meines Bruders. Nach Mutters Tod brachte er die Asche unserer Eltern an die französische Atlantikküste, wo sie oft ihre Ferien verbracht hatten. Er und seine Frau verstreuten die Asche auf den Dünen; mit dabei war J., der beste französische Freund unserer Eltern. Sie lasen »Fürchte nicht mehr Sonnenglut« aus Shakespeares Cymbeline (»Junger Mann und Jungfrau, goldgehaart / Zu Essenkehrers Staub geschart«) und Jacques Préverts Gedicht Les escargots qui vont à l’en terrement; mein Bruder erklärte, er sei »seltsam gerührt« gewesen. Beim anschließenden Essen kam das Gespräch auf die alljährlichen Reisen unserer Eltern in diesen Teil Frankreichs. »Ich weiß noch, wie verblüfft ich war«, erzählte mir mein Bruder, »als J. schilderte, wie Vater sie mit seinen Anekdoten und angeregten Gesprächen jede Nacht bis in die frühen Morgenstunden wach hielt. Ich kann mich nicht erinnern, dass er nach dem Umzug in diesen grässlichen Bungalow je gesprochen hätte, und hatte gedacht, er wüsste gar nicht mehr, wie man unterhaltsam sein kann. Da habe ich mich offenbar schwer getäuscht.« Mir fällt dazu die Erklärung ein, dass unser Vater besser französisch sprach als unsere Mutter und ihr dadurch für diese wenigen Wochen im Jahr sprachlich und gesellschaftlich etwas voraus hatte; oder vielleicht benahm sich unsere Mutter im Ausland bewusst wie eine herkömmliche Ehefrau, die eher zuhört (wie unwahrscheinlich das auch klingen mag).
    Wie man sich täuschen kann: zum Ausgleich ein Irrtum von mir. Ich wurde gestillt, mein Bruder bekam das Fläschchen: Daraus leitete ich einst ab, warum wir uns wesensmäßig

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