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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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das Nichts. Ich glaube nicht an ein Leben jenseits des Grabes.« Dann bat er das Publikum, möglichst leise zu sein, da die Aufführung aufgezeichnet werde.
    Neben Lubozki saß eine Frau, die im Haus des Komponisten arbeitete, einen Platz weiter ein älterer, glatzköpfiger Mann. Als der ganz besonders leise fünfte Satz der Symphonie erklang, sprang dieser Mann plötzlich auf, ließ seinen Sitz laut zurückknallen und rannte aus dem Saal. Die Frau flüsterte: »Unverschämter Kerl! Er wollte Schostakowitsch schon 1948 fertigmachen, aber es ist ihm nicht gelungen. Er hat immer noch nicht aufgegeben, und jetzt hat er die Aufnahme absichtlich ruiniert.« Natürlich war das Apostolow. Doch keiner der Anwesenden wusste, dass der Störenfried gerade selbst zerstört wurde – von einem Herzanfall, der tödlich enden sollte. Die »düstere Todessymphonie«, wie Lubozki sie nannte, wurde ihm damit tatsächlich zum bitteren Abgesang.
    Die Samarra-Geschichte zeigt, wie wir uns früher den Tod vorstellten: als einen Jäger auf der Pirsch, der beobachtet und wartet, bis er zuschlagen kann; eine schwarz gekleidete Gestalt mit Sense und Stundenglas; etwas Äußerliches, Personifizierbares. Die Moskauer Geschichte zeigt uns den Tod in seiner gewöhnlichen Gestalt: etwas, was wir selbst ständig in uns tragen, in einem Stück genetischen Materials, das potenziell verrücktspielen kann, in einem fehlerhaften Organ, in der Maschinerie mit begrenzter Lebensdauer, aus der wir bestehen. Wenn wir dann auf dem Sterbebett liegen, kehren wir gern zu der Personifizierung des Todes zurück und glauben, wir kämpften gegen die Krankheit wie gegen die Invasion einer feindlichen Armee; dabei kämpfen wir in Wirklichkeit nur gegen uns selbst, gegen die Teile in uns, die den Rest von uns umbringen wollen. Gegen Ende wetteifern unsere verfallenden und schwächer werdenden Bestandteile – falls wir lange genug leben – oft um den Spitzenplatz auf unserem Totenschein. Wie Flaubert sagte: »Kaum kommen wir auf diese Welt, da fangen wir auch schon an, stückchenweise abzubröckeln.«
    Jules Renard wurde von seinem Herzen erledigt. Nachdem man bei ihm ein Emphysem sowie Arteriosklerose festgestellt hatte, begann sein letztes Jahr au lit et au lait (im Bett und mit Milch – zweieinhalb Liter am Tag). Er sagte: »Jetzt, da ich krank bin, würde ich gern ein paar tiefsinnige und historisch bedeutsame Äußerungen von mir geben, die meine Freunde später zitieren werden; aber ich rege mich dabei immer zu sehr auf.« Er übertrug seiner Schwester scherzhaft die Aufgabe, auf dem kleinen Platz in Chitry-les-Mines eine Büste von ihm aufstellen zu lassen. Er sagte, Schriftsteller hätten einen besseren und wahreren Sinn für die Realität als Ärzte. Er meinte, sein Herz benehme sich wie ein verschütteter Bergmann, der in unregelmäßigen Abständen Klopfzeichen von sich gebe, um zu zeigen, dass er noch am Leben sei. Er hatte das Gefühl, Teile seines Gehirns würden weggeblasen wie bei einer Pusteblume. Er sagte: »Keine Sorge! Wer den Tod fürchtet, will immer so elegant wie möglich sterben.« Er sagte: »Es gibt kein Paradies, aber wir müssen dennoch trachten, seiner würdig zu sein.« Das Ende kam am 22 . Mai 1910 in Paris; vier Tage später wurde er in Chitry ohne kirchlichen Segen beerdigt, wie vor ihm sein Vater und sein Bruder. Auf seine schriftstellerische Bitte hin wurden an seinem Grab keine Ansprachen gehalten.
    Zu viele französische Tode? Also schön, hier ist ein guter alter britischer Tod, der unseres nationalen Connaisseurs der Todesangst Philip Larkin. In den ersten Jahrzehnten seines Lebens konnte er sich bisweilen einreden, wenn die Auslöschung käme, sei sie womöglich eine Gnade. Doch als er die fünfzig überschritten hatte, so berichtet uns sein Biograf, verdüsterte ihm die Furcht vor der Vergessenheit alles – und mit über sechzig nahmen seine Ängste dann rasant zu. So viel zu der Beteuerung meines Freundes G., nach dem sechzigsten Geburtstag werde es besser. Larkin schrieb in dem Jahr, das ihm den Tod bringen sollte, an einen Dichterkollegen: »Ich denke nicht ständig an den Tod, sehe aber nicht ein, was dagegen spricht; wenn ein Mann in der Todeszelle sitzt, erwartet man doch auch, dass er ständig an den Galgen denkt. Warum schreie ich nicht?«, fragte er sich in Anspielung auf sein Gedicht »The Old Fools«.
    Larkin starb in einem Krankenhaus in Hull. Ein Freund, der ihn am Tag davor besuchte, sagte: »Wenn Philip

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