Nichts, was man fürchten müsste
auseinanderentwickelt haben. Doch einer meiner letzten Besuche bei meiner Mutter brachte einen untypi schen Moment annähernder Vertraulichkeit mit sich. In der Zeitung hatte gestanden, dass gestillte Kinder intelligenter seien als solche, die mit der Flasche aufgezogen wurden. »Das habe ich auch gelesen«, sagte Ma, »und ich musste lachen. Bei meinen beiden kann ich nicht klagen, habe ich gedacht.« Dann bestätigte sie – nach eingehender Befragung –, dass ich ebenso wenig gestillt wurde wie mein Bruder. Nach den Gründen fragte ich sie nicht: Vielleicht wollte sie uns beiden die gleichen Startbedingungen geben, oder sie schreckte vor der möglichen Sauerei zurück (»Ein Hundestall!«). Es waren aber trotzdem nicht genau die gleichen Startbedingungen, denn sie erwähnte, dass wir unterschiedliche Babynahrung bekommen hatten. Sie nannte mir sogar die Namen auf dem Etikett, die ich umgehend vergessen habe. Eine Charakterlehre auf der Grundlage verschiedener Marken handelsüblicher Babymilch? Das wäre ziemlich tendenziös, wie selbst ich zugeben würde. Und wenn mein Bruder meiner Mutter Tee ans Krankenbett brachte, finde ich das heute auch nicht weniger liebevoll als mein eigenes, mich selbst verhätschelndes (und vielleicht nur faules) Deckenkuscheln.
Jetzt noch ein komplizierterer, wenngleich ebenso anhaltender Irrtum. P., der französische assistant mit den Geschichten von Mister Beezy-Weezy, kam nie wieder nach England, doch die zwei kleinen, ungerahmten Landschaften, die er meinen Eltern geschenkt hatte, hielten uns sein Jahr hier in Erinnerung. Sie verbreiteten eine ziemlich düstere, holländische Atmosphäre: Ein Bild zeigte einen Fluss mit einer verfallenen Brücke, von deren Geländer Blätter herabregneten; das andere eine Windmühle vor einem wildbewegten Himmel, und im Vordergrund saßen drei Frauen mit weißen Kopftüchern beim Picknick. Dass die Bilder künstlerisch gestaltet waren, sah man an den dicken Pinselstrichen auf Fluss, Himmel und Wiese. In meiner Kindheit und Jugend hingen die beiden Gemälde im Wohnzimmer; später, in dem »grässlichen Bungalow«, thronten sie über dem Esstisch. Ich muss sie über fünfzig Jahre lang regelmäßig angeschaut haben, ohne mich oder meine Eltern je zu fragen, wo dieser Mann seinen Kasten mit Ölfarben eigentlich aufgestellt hatte. In Frankreich – vielleicht in seiner Heimat Korsika –, in Holland oder England?
Bei der Haushaltsauflösung nach dem Tod meiner Mutter fand ich in einer Schublade zwei Postkarten mit exakt denselben beiden Ansichten. Zuerst dachte ich, womöglich seien sie zu Werbezwecken eigens für P. gedruckt worden: Er hatte immer verschiedene theoretisch einträgliche Projekte auf Lager. Dann drehte ich die Karten um und sah, dass es kommerziell hergestellte Kunstpostkarten von typisch bretonischen Szenen waren: »Vieux Moulin à Cléden« und »Le Pont fleuri«. Was ich mein Leben lang für gekonnte Originalität gehalten hatte, war nichts als gekonntes Kopieren. Und damit nicht genug. Die Karten waren unten rechts mit »Yvon« gezeichnet, als sei das der Künstlername. Doch »Yvon« erwies sich als der Name der Postkartenfirma. Die Bilder waren also überhaupt nur dazu hergestellt worden, um Postkarten zu werden, und P. hatte sie dann wieder in die »Originalgemälde« verwandelt, die sie nie gewesen waren. Ein französischer Theoretiker hätte an all dem seine helle Freude gehabt. Ich klärte meinen Bruder eilends über unseren fünfzigjährigen Irrtum auf und erwartete, dass er ihn ebenso lustig finden würde wie ich. Doch weit gefehlt: aus dem einfachen Grund, dass er sich genau daran erinnerte, wie P. die Bilder gemalt hatte, »und dass ich dachte, Kopieren sei doch viel schlauer als sich etwas mit dem eigenen Kopf auszudenken«.
Solche faktischen Korrekturen sind nicht schwer und können sogar geistig erfrischend wirken. Schwieriger ist es, sich Irrtümern über Wahrnehmungen und Urteile zu stellen, die man inzwischen für eine eigene Leistung hält. Nehmen wir zum Beispiel den Tod. Ich kannte die lebhafte Furcht davor fast mein ganzes empfindungsfähiges Leben lang und hielt mich – allen freudschen Thesen zum Trotz – durchaus für fähig, mir mein eigenes ewiges Nicht-Sein vorzustellen. Doch wenn ich mich nun täusche? Schließlich behauptet Freud, unser Unbewusstes hielte hartnäckig an der Überzeugung von unserer Unsterblichkeit fest – eine per se unwiderlegbare These. Demnach ist mein vermeintliches
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