Nichts, was man fürchten müsste
In-die-Grube-Schauen vielleicht nur die Illusion einer Wahrheitserforschung, weil ich im tiefsten Inneren nicht an die Grube glaube, nicht an sie glauben kann; und wenn Koestler mit seinem Satz von der Bewusstseinsspaltung in extremis recht hat, dann hält diese Illusion vielleicht sogar bis zu unserem Ende an.
Man kann sich auch auf andere Art täuschen: Wenn nun die Furcht, die wir im Voraus empfinden – und die uns so absolut vorkommt –, am Ende nichts ist gegen das, was uns wirklich bevorsteht? Wenn unsere Vorstellungen von dem schwarzen Loch nur eine ganz schwache Ahnung von dem vermitteln, was wir – wie Goethe erkennen musste – in unseren letzten Stunden durchmachen? Und wenn der nahende Tod schließlich alles hinwegrafft, was wir an Sprache kennen, sodass wir die Wahrheit nicht einmal mitteilen können? Dann hätte man sich die ganze Zeit getäuscht: Nun, Flaubert hat ja gesagt, Widersprüchlichkeit hält den Verstand beisammen.
Und nach dem Tod – Gott. Wenn es einen Spielchen spielenden Gott gäbe, hätte er bestimmt seine ganz besondere Spielerfreude daran, jene Philosophen zu enttäuschen, die sich und andere von seiner Nichtexistenz überzeugt haben. A. J. Ayer versichert Somerset Maugham, nach dem Tod käme nichts und das Nichts; und dann finden sich beide als Mitwirkende in Gottes kleinem Rummelplatzvergnügen namens »Das Rasen des auferstandenen Atheisten« wieder. Ein nettes Was-wäre-dir-lieber für einen Gott leugnenden Philosophen: Soll nach dem Tod lieber nichts kommen und du hattest recht, oder soll es eine wundersame Überraschung geben, die deine professionelle Reputation zunichte macht?
»Atheismus ist aristokratisch«, behauptete Robespierre. Diesen Satz hat der Brite Bertrand Russell im zwanzigsten Jahrhundert großartig verkörpert – wobei es sicherlich half, dass er tatsächlich aristokratisch war. Im hohen Alter und mit seinem widerspenstigen weißen Haar sah Russell aus wie ein weiser Mann auf halbem Weg zur Göttlichkeit und wurde auch so behandelt: ein ganzes Any-Questions? Team in einer Person. Er schwankte nie in seinem Unglauben, und freundliche Provokateure fragten ihn gern, wie er reagieren würde, wenn sich sein lebenslanges Propagieren des Atheismus als Irrtum erwiese. Wenn das Himmelstor nun weder eine Metapher noch ein Hirngespinst wäre und er sich einer Gottheit gegenübersähe, die er immer geleugnet habe? »Nun«, pflegte Russell zu antworten, »ich würde zu ihm gehen und sagen: ›Du hast uns nicht genügend Beweise geliefert.‹«
Psychologen meinen, wir überschätzten die Beständigkeit unserer früheren Überzeugungen. Vielleicht wollen wir uns damit unserer stets bedrohten Individualität versichern und uns zugleich auf die Schulter klopfen, wenn wir diese Überzeugungen neu überdenken, als wäre das eine höhere Leistung – wie wir ja auch stolz sind auf unsere erlangte Weisheit, wenn diese zusätzlichen Dendriten sprießen. Doch neben dem ständigen, obschon unbemerkten Wandel unseres Ichs oder dessen, was unser Selbst ausmacht, gibt es Momente, in denen unsere ganze Welt, die wir uns gern so fest gefügt denken, plötzlich ins Schlingern gerät: Momente, in denen das Wort »Täuschung« die ungeheure Veränderung nur unzulänglich beschreibt. Das ist der Moment des ersten, ganz eigenen réveil mortel; der – damit nicht zwangsläufig zusammenfallende – Moment, in dem wir begreifen, dass auch jeder andere sterben wird; die Erkenntnis, dass mit dem Verdampfen der Ozeane durch die Sonne das menschliche Leben überhaupt ein Ende finden und im Weiteren dann auch unser Planet sterben wird. All das würde schon reichen, uns aus dem Gleichgewicht zu bringen.
Dabei gilt es etwas zu bedenken, das sogar noch schwindelerregender wirken kann. Wir haben als Menschheit einen Hang zum historischen Solipsismus. Vergangenheit ist das, was uns hervorgebracht hat, Zukunft das, was wir erschaffen. Wir ergreifen – triumphierend – Besitz von den besten wie auch – voller Selbstmitleid – den schlechtesten Zeiten. Wir neigen dazu, unsere wissenschaftlichen und technischen Fortschritte mit moralischen und gesellschaftlichen Fortschritten zu verwechseln. Und wir vergessen nur allzu leicht, dass der Prozess der Evolution nicht nur die Menschheit in ihren jetzigen bewundernswerten Zustand gebracht hat, sondern logischerweise auch von uns wegführen wird.
Doch wie weit reicht unser Blick tatsächlich zurück, wie weit voraus? Ich glaube, ich kann mit
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