Nichts, was man fürchten müsste
auch weil die Erinnerungen dann anders aussehen: Sie erscheinen dem jungen Gehirn als genaues Abbild und nicht als bearbeitete und verfärbte Version des Geschehens. Mit dem Erwachsenenalter kommt das Ungefähre, Verschwimmende und auch der Zweifel; um den Zweifel in Schach zu halten, erzählen wir eine sattsam bekannte Geschichte immer wieder mit effektvollen Pausen und Unterbrechungen und reden uns ein, das Beständige der Erzählung sei ein Beweis ihrer Wahrheit. Dagegen zweifeln Kinder und Jugendliche nur selten an der Wahrhaftigkeit und Exaktheit der strahlend hellen Vergangenheitsbrocken, die sie ihr Eigen nennen und hegen und pflegen. Darum erscheint es in dem Alter nur logisch, wenn wir uns vorstellen, unsere Erinnerungen lägen wie in einem Fundbüro zur Abholung bereit, sobald wir den nötigen Schein vorweisen; oder (falls dieser Vergleich überholt wirkt und an Dampfloks und Damencoupés denken lässt) sie seien so etwas wie die Güter in einem dieser Lagerhäuser, die man heutzutage an Ausfallstraßen findet. Wir wissen, wir sollten uns auf das scheinbare Paradox des Alters gefasst machen, wo wir uns verlorene Segmente aus unseren frühen Jahren ins Gedächtnis zurückrufen, die uns dann lebhafter vor Augen stehen als die Lebensmitte. Doch das bestätigt scheinbar nur, dass da oben wirklich alles in einem ordentlichen zerebralen Speicher liegt, zu dem wir Zugang haben oder auch nicht.
Mein Bruder erinnert sich nicht, dass er vor mehr als einem halben Jahrhundert mit Dion Shirer zusammen Zweiter im Schubkarrenrennen wurde, und kann deshalb nicht bezeugen, wer von beiden die Karre war und wer geschoben hat. Auch an die unzumutbaren Schinkensandwiches auf der Reise in die Schweiz hat er keine Erinnerung. Dafür erinnert er sich an Dinge, die er auf seiner Postkarte nicht erwähnt hat: dass er dort zum ersten Mal eine Artischocke sah und zum ersten Mal »von einem anderen Jungen sexuell angemacht wurde«. Er gibt auch zu, dass er das ganze Geschehen im Laufe der Zeit nach Frankreich verlegt hat: womöglich eine Verwechslung des weniger bekannten Champéry in der Schweiz (wo die Kuhglocken herkommen) mit dem bekannteren Chambéry in Frankreich (wo der Aperitif herkommt). Wir sprechen über unsere Erinnerungen, aber vielleicht sollten wir mehr über das sprechen, was wir vergessen haben, auch wenn das ein schwierigeres – oder logisch unmögliches – Unterfangen ist.
Wahrscheinlich sollte ich Sie warnen (vor allem, wenn Sie Philosoph, Theologe oder Biologe sind), dass Ihnen manches in diesem Buch dilettantisch und selbst gestrickt vorkommen wird. Aber wir sind ja allesamt Dilettanten in unserem eigenen Leben und allem, was dieses Leben betrifft. Wenn wir uns auf das Berufsfeld anderer Leute vorwagen, dann hoffen wir, dass das Diagramm unseres annähernden Verständnisses in etwa dem Diagramm ihres Wissens entspricht; aber verlassen können wir uns darauf nicht. Außerdem sollte ich Sie vorwarnen, dass in diesem Buch eine Menge Schriftsteller vorkommen werden. Die meisten sind schon tot, und ziemlich viele sind Franzosen. Einer davon ist Jules Renard, der sagte: »Im Angesicht des Todes kehren wir unser Buchwissen ganz besonders heraus.« Es werden auch etliche Komponisten vorkommen. Einer davon ist Strawinski, der sagte: »Musik ist die beste Art, die Zeit zu verarbeiten.« Künstler – tote Künstler – dieser Art sind meine ständigen Gefährten, aber auch meine Vorväter. Sie sind meine wahren Ahnen (ich kann mir vorstellen, dass mein Bruder das Gleiche über Plato und Aristoteles sagen würde). Das mag keine direkte und auch keine nachweisbare Abstammung sein – ein Kind der Liebe und dergleichen –, aber ich erhebe dennoch Anspruch darauf.
Mein Bruder hat das Schinkensandwich vergessen, erinnert sich an die Artischocke und den sexuellen Annäherungsversuch und hat die Schweiz verdrängt. Merken Sie, dass sich da eine Theorie abzeichnet? Vielleicht hat sich das stachelig Abstoßende der Artischocke für ihn mit der Erinnerung an den sexuellen Annäherungsversuch verknüpft. In dem Fall hätte ihm diese Verbindung späterhin Artischocken (und die Schweiz) verleiden können. Allerdings isst mein Bruder durchaus Artischocken und hat jahrelang in Genf gearbeitet. Aha – dann war ihm der Annäherungsversuch vielleicht ganz recht? Müßige, interessante Fragen, die mit Hilfe einer E-Mail sogleich beantwortet sind. »Soweit ich mich erinnere, war mir das weder angenehm noch widerwärtig – ich
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