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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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fand es einfach nur seltsam. Danach verlegte ich mich in der U-Bahn auf die Strategie der Geometrie-Hausaufgaben.«
    Das hört sich auf jeden Fall unbeschwerter und praktischer an, als ich es war, als mir im morgendlichen U-Bahn-Gedränge einmal ein Anzug tragender Brutalo seinen Oberschenkel zwischen die Beine rammte, als könnte er ihn wirklich nirgendwo anders hintun. Oder als Edwards (der in Wirklichkeit nicht Edwards hieß), ein älterer Junge mit Pickeln im Gesicht, auf der Rückfahrt von einem Rugbyspiel im Southern-Region-Zug etwas versuchte, was eher ein Überfall als eine Verführung war. Ich fand das unangenehm und wenn auch nicht widerwärtig, so doch verstörend, und erinnere mich noch heute an die genauen Worte, mit denen ich ihn abblitzen ließ. »Nun werd mal nicht sexy, Edwards«, sagte ich (allerdings hieß er nicht Edwards). Das tat seine Wirkung, ist mir aber weniger der Wirksamkeit wegen in Erinnerung geblieben als dadurch, dass es mir trotzdem nicht ganz richtig erschien. Was er getan hatte – mich schnell an die Eier unter der Hose zu packen –, hielt ich nicht im Entferntesten für sexy (wozu auf jeden Fall ein Busen gehört hätte), und ich hatte das Gefühl, meine Antwort hätte etwas durchblicken lassen, was gar nicht der Fall war.

    In Oxford las ich zum ersten Mal Montaigne. Mit ihm beginnt das moderne Denken über den Tod; er stellt die Verbindung zwischen den weisen Vorbildern der Antike und unserem Bemühen um ein modernes, erwachsenes, nicht religiöses Akzeptieren unseres unausweichlichen Endes dar. Philosopher, c’est apprendre à mourir. Philosophieren heißt sterben lernen. Montaigne zitiert hier Cicero, der sich seinerseits auf Sokrates beruft. Seine gelehrten und berühmten Abhandlungen über den Tod sind stoisch, trocken, anekdotisch, epigrammatisch und tröstlich (jedenfalls der Absicht nach); und sie sind dringlich. Wie meine Mutter richtig bemerkte, lebten die Menschen früher nicht halb so lang. Bei all den Seuchen und Kriegen konnte man froh sein, die vierzig zu erreichen, zumal man bei Ärzten nie wusste, ob sie einen umbringen oder heilen würden. Am »Schwinden der Kräfte infolge sehr hohen Alters« zu sterben war zu Montaignes Zeiten ein »seltener, eigenartiger und außergewöhnlicher« Tod. Heutzutage halten wir ihn für unser gutes Recht.
    Philippe Ariès stellte fest, dass nicht mehr über den Tod gesprochen wird, seit man ihn wirklich fürchtet. Die steigende Lebenserwartung hat diese Tendenz noch verschärft: Da wir uns nicht mehr unmittelbar betroffen fühlen, gilt es als morbide und ungehörig, das Thema aufs Tapet zu bringen. Unser eifriges Bemühen, das Nachdenken über den Tod aufzuschieben, erinnert mich an eine oft gesehene Werbung für Pearl Insurance, die mein Bruder und ich uns gern gegenseitig hersagten. Wie ein künstliches Gebiss und Fußpflege lag auch die Rente noch in so weiter Ferne, dass sie in erster Linie komisch war. Die naiven Strichzeichnungen eines Mannes mit zunehmend besorgtem Gesicht schienen das nur zu bestätigen. Mit fünfundzwanzig ist das Gesicht fröhlich und selbstgefällig: »Die sagen, bei der Stelle fällt keine Rentenversicherung an.« Mit fünfunddreißig sind erste Zweifel aufgekommen: »Leider bin ich durch meine Arbeit nicht rentenversichert.« Und so immer weiter – wobei das Wort »Rente« jedes Mal in ein mahnendes graues Rechteck gesetzt ist – bis zum fünfundsechzigsten Lebensjahr: »Ich weiß wirklich nicht, was ich ohne Rente machen soll.« Ja, würde Montaigne jetzt sagen, du hättest eben etwas früher anfangen sollen, an den Tod zu denken.
    Zu seiner Zeit hatte man das Thema ständig vor Augen – es sei denn, man griff zu dem Heilmittel der einfachen Leute, die Montaigne zufolge so taten, als gäbe es keinen Tod. Doch Philosophen und wissbegierige Geister wandten den Blick auf die Geschichte und die Klassiker des Altertums, um zu erfahren, wie man am besten stirbt. Heute sind unsere Ansprüche geringer geworden. »Mut«, schreibt Larkin in seinem großen Todesgedicht »Aubade«, »heißt andere nicht schrecken.« Damals hieß es etwas anderes. Es bedeutete weitaus mehr: anderen zu zeigen, wie man ehrenvoll, klug und ungebrochen stirbt.
    Ein Schlüsselbeispiel bei Montaigne ist die Geschichte von Pomponius Atticus, der mit Cicero einen jahrelangen Briefwechsel führte. Als Atticus erkrankte und alle ärztlichen Bemühungen um eine Verlängerung seines Lebens nur seine Qualen verlängerten, beschloss

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