Nichts, was man fürchten müsste
mourir falsch interpretiert. Cicero habe damit nicht sagen wollen, dass man den Tod weniger fürchtet, wenn man regelmäßig an ihn denkt, sondern dass ein Philosoph beim Philosophieren für den Tod übt – in dem Sinne, dass er sich mit seinem Geist beschäftigt und den Körper ignoriert, den der Tod auslöschen wird. Für die Platoniker werde man nach dem Tod eine reine Seele, von allen körperlichen Hindernissen befreit und somit eher zu freiem und klarem Denken fähig. Daher müsse ein Philosoph sich zu Lebzeiten durch Techniken wie Fasten und Selbstkasteiung auf diesen postmortalen Zustand vorbereiten. Die Platoniker glaubten, nach dem Tod werde alles besser. Die Epikureer dagegen glaubten, nach dem Tod komme nichts mehr. Cicero hat offenbar (ich benutze das Wort »offenbar« im Sinne von »wie mir mein Bruder weiter erklärte«) beide Denkrichtungen zu einem fröhlichen Entweder/Oder des Altertums zusammengeführt: »Entweder fühlen wir uns nach dem Tod besser, oder wir fühlen gar nichts mehr.«
Ich frage meinen Bruder, was in der platonischen Nachwelt aus der riesengroßen Bevölkerungsgruppe der Nicht-Philosophen werden soll. Anscheinend werden alle beseelten Geschöpfe einschließlich der Tiere und Vögel – und vielleicht sogar der Pflanzen – nach ihrem Betragen in dem eben beendeten Leben beurteilt. Wer den Anforderungen nicht genügt, wird zu einer weiteren leiblichen Runde auf die Erde zurückgeschickt und vielleicht eine Spezies herauf- oder heruntergestuft (wodurch er etwa ein Fuchs oder eine Gans wird) oder nur innerhalb einer Spezies befördert oder degradiert (indem er beispielsweise vom Weibchen zum Männchen aufsteigt). Philosophen wird die Befreiung von der körperlichen Hülle, wie mein Bruder erläutert, nicht automatisch zuteil: Dazu muss man obendrein noch ein anständiger Kerl gewesen sein. Aber wenn sie ihnen zuteilwird, dann haben sie einen Vorsprung vor der Masse der Nicht-Philosophen – von Seerosen und Pusteblumen ganz zu schweigen. Natürlich stehen sie durch ihre größere Nähe zu dem letztendlichen Idealzustand auch in diesem Leben besser da. »Ja«, fährt er fort, »das wirft wohl einige Fragen auf (zum Beispiel wozu ein Vorsprung gut sein soll, wenn das Rennen ewig weitergeht). Aber eigentlich lohnt es nicht, weiter darüber nachzudenken – das Ganze ist (im philosophischen Fachjargon ausgedrückt) sowieso blühender Unsinn.«
Ich bitte ihn um eine nähere Erläuterung, warum er den Satz »Ich glaube nicht an Gott, aber ich vermisse ihn« als »sentimentalen Quatsch« abgetan hat. Er räumt ein, dass er nicht recht weiß, wie er meine Aussage verstehen soll: »Vermutlich in der Art von ›Ich glaube nicht, dass es irgendwelche Götter gibt, aber ich wünschte, es gäbe sie (vielleicht auch: aber ich wünschte, ich glaubte daran)‹. Ich kann ja nachvollziehen, warum jemand so etwas sagt (setz für ›Götter‹ mal versuchsweise ›Dodos‹ oder ›Yetis‹ ein), aber ich für meinen Teil bin mit der Lage der Dinge ganz zufrieden.« Man merkt gleich, dass er Philosophie lehrt, nicht wahr? Ich will etwas Bestimmtes von ihm wissen, er nimmt meinen Satz nach allen Regeln der Logik auseinander und hat ein paar alternative Substantive zur Hand, um zu zeigen, dass der Satz absurd, unhaltbar oder sentimentaler Quatsch ist. Aber für mich ist seine Antwort genauso befremdlich wie für ihn meine Frage. Ich hatte ja nicht wissen wollen, was er davon hält, wenn jemand Do-dos oder Yetis vermisst (oder auch nur irgendwelche Götter im Plural), sondern Gott.
Ich hake nach, ob er je religiöse Gefühle oder Sehnsüchte hatte. NEIN und NEIN ist seine Antwort – »Es sei denn, es zählt auch, wenn mich Händels Messias oder Donnes geistliche Sonette bewegen«. Mich interessiert, ob sich diese Gewissheit auf seine zwei Töchter vererbt hat, die inzwischen über dreißig sind. Ich frage sie nach religiösen Gefühlen/ Hang zum Übersinnlichen/ Gottesglauben. »Nein, niemals, absolut nicht«, antwortet die jüngere. »Es sei denn, es zählt auch als Hang zum Übersinnlichen, wenn man nicht auf die Linien auf dem Bürgersteig tritt.« Wir sind uns einig, dass das nicht zählt. Ihre Schwester gesteht ein »kurzzeitiges Sehnen nach Religiosität, als ich etwa elf war. Aber das lag daran, dass meine Freundinnen religiös waren, dass ich beten wollte, damit mir meine Wünsche erfüllt würden, und dass wir in der Pfadfindergruppe ständig bedrängt wurden, christlich zu sein. Als meine
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